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Der digitale Arztbesuch per App

Wie weit darf (das Verbot von) Fernbehandlung gehen?

Claudia Otto

I. Einleitung

Seit dem 19. Dezember 2019 gilt in Deutschland das Werbeverbot des § 9 Heilmittelwerbegesetz (HWG) für sog. Fernbehandlung in nachstehender Fassung:

Unzulässig ist eine Werbung für die Erkennung oder Behandlung von Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhaften Beschwerden, die nicht auf eigener Wahrnehmung an dem zu behandelnden Menschen oder Tier beruht (Fernbehandlung). Satz 1 ist nicht anzuwenden auf die Werbung für Fernbehandlungen, die unter Verwendung von Kommunikationsmedien erfolgen, wenn nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist.[1]

Mit Urteil vom 9. Juli 2020 hat das OLG München[2] in Leitsätzen entschieden, dass das Werbeverbot des § 9 S. 1 HWG die Fernbehandlung nicht an sich verbietet, sondern lediglich die Werbung dafür. Der Gesetzgeber habe mit dem § 9 HWG in seiner aktuellen Fassung an seiner grundsätzlichen Wertung festhalten wollen, dass eine Werbung für Fernbehandlungen im Interesse der Vermeidung der mit einer solchen Werbung verbundenen Gefahren für die allgemeine Gesundheit im Allgemeinen untersagt ist. Ausschließlich unter den in § 9 S. 2 HWG explizit genannten Voraussetzungen sei eine Werbung für Fernbehandlung erlaubt.

Das Urteil des OLG München ist hochaktuell und dürfte gleichzeitig für hohe Aufmerksamkeit sorgen. Schließlich ist in den Zeiten der seit März 2020 anhaltenden Corona-Situation der Wunsch nach Fernbehandlung besonders hoch. Zum einen auf der Patientenseite, sich bei kleineren gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht im Wartezimmer einem Ansteckungsrisiko auszusetzen. Zum anderen auf der Seite der Ärzte[3] und Hilfs- sowie Pflegekräfte, die gleichermaßen ein Interesse an einer Reduzierung des Ansteckungsrisikos haben. Hinzu kommt, dass die Gesundheitsversorgung durch sie gesichert bleiben muss, die vor allem im Dezember 2020 einer epochalen Zerreißprobe ausgesetzt ist – mithin ein Jahr nach Inkrafttreten des neuen § 9 HWG. Im Jahr 2020 hat die sog. Telemedizin insgesamt einen Boom erlebt: Viele Stakeholder im Bereich „Digital Health“ werden sich fragen, inwieweit und ggf. für wie lange § 9 HWG (noch) haltbar ist. Der Fall der App für den digitalen Arztbesuch bietet hier eine Gelegenheit, dem Werbeverbot neuer digitaler Angebote im Gesundheitsbereich auf den Grund zu gehen.


II. Der Fall

Das OLG München hatte über die Werbung für eine Smartphone-App für den „digitalen Arztbesuch“ zu entscheiden. Die Klägerin ist ein eingetragener Verein zur Förderung gewerblicher Interessen, insbesondere zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs. Die Beklagte O., eine Holding und die Websitebetreiberin, bewarb diese App im Rahmen des Internet- und Werbeauftritts einer Krankenversicherung, ihrer Tochtergesellschaft. Dieser Werbeauftritt erfolgte über eine deutschsprachige Website mit der Top Level Domain „.de“. Das konkrete Werbeangebot der in Streit stehenden App richtete sich an in Deutschland lebende Patienten, die bei der Tochtergesellschaft der Beklagten krankenversichert sind. Das App-Angebot beschrieb von in der Schweiz ansässigen Ärzten durchgeführte „Diagnosen, Therapieempfehlungen und Krankschreibungen“, wobei diese als „alternativ zum traditionellen Arztbesuch“ der „digitale Arztbesuch per App“ angegeben wurden. Angepriesen wurde die App mit Aussagen wie

„Bleib einfach im Bett, wenn Du zum Arzt gehst“[4]

oder

„Vorbei ist die Zeit in der du dich mit Schnupfen zum Arzt schleppen musstest. Ab jetzt erhältst du Diagnosen und Krankschreibungen direkt über dein Smartphone. Ohne zusätzliche Kosten“.[5]

Weil die Tatsachenfeststellung des Gerichts zu knapp geraten ist und Fragen offen lässt, wurde die Sachverhaltsrecherche ausgeweitet. Die Presse stellte das Angebot im Zeitraum 2018 bis 2019 wie folgt dar:

„O. versteht sich erster volldigitaler Krankenversicherer, bei dem sich sämtliche Bürokratie mit dem Smartphone erledigen lässt. Statt Ordner voller Rechnungen anzulegen, kann der Kunde alles mit dem Smartphone abfotografieren und sofort einreichen. Das Geld wird innerhalb weniger Tage erstattet – nach Abzug eines Selbstbehalts von zehn Prozent. Statt einer Telefon-Hotline mit nervigen Warteschleifen, gibt es für die Generation Whatsapp einen „Concierge-Service“, der rund um die Uhr per Chat erreichbar sein soll.“ [6]

„Außerdem kann für allgemeine medizinische Fragen ein Arzt per Videotelefonie konsultiert werden, was zum Beispiel im Auslandsurlaub praktisch sein kann.“ [7]

„Da der digitale Arztservice in Deutschland rechtlichen Hürden unterworfen ist, sitzen die teilnehmenden Ärzte in der Schweiz. Aus der Ferne kann natürlich nur eine erste Einschätzung vorgenommen werden, aber um eine Krankschreibung zu bekommen, ohne sich mit Erkältung ins Wartezimmer zwängen zu müssen, reicht es zum Beispiel.“[8] 

„O. richtet sich an eine junge, technikaffine Kundschaft, an gutverdienende Unternehmensberater, an selbständige Steuerberater und seit Neuestem auch an beihilfeberechtigte Beamte.“ [9]

„Verbraucherschützer halten die Newcomer zwar für seriös, aber auch nicht für revolutionär. ,Die Leistungen von O. sind insgesamt ordentlich, gegenüber anderen Krankenversicherungen aber auch nichts Besonderes‘, sagt Christoph Kranich, Gesundheitsexperte der Verbraucherzentrale Hamburg.“ [10]

„Zur Jahresmitte 2019 veränderte das Unternehmen dann sein Vertriebsmodell. Seither laufen Werbespots auf den Sendern der ProsiebenSat1-Gruppe, hier gibt es neuerdings auch eine Kooperation mit Seven Ventures. Außerdem arbeite O. mit dem Vergleichsportal Check 24 sowie dem Versicherungsvermittler Blau zusammen. Daneben ist man verstärkt auf Online- und Social Media-Kanälen aktiv.

Mehr als 5000 Kunden sollen es nun bis zum Jahresende werden, so das Ziel. Ende vergangenen Jahres waren es erst 406 Kunden. ,Das Kapital fließt insbesondere in Vertriebs- und Marketinginitiativen, damit wir unseren Kundenstamm weiter vergrößern können‘, gibt Gründer und Vorstandschef Roman Rittweger die klare Richtung vor.“[11]

Zu den in der Werbung in Bezug genommenen Diagnosen, Therapieempfehlungen und Gründen für Krankschreibungen fehlten, ganz im Einklang mit vorstehendem Verweis auf „allgemeine medizinische Fragen“ und die „erste Einschätzung“, nähere Angaben.

Gemäß den Ausführungen des OLG habe die Beklagte verallgemeinernd damit geworben, dass „erstmals in Deutschland“ die komplette ärztliche Versorgung, nämlich „Diagnosen, Therapieempfehlung und Krankschreibung“, mittels einer App online erfolgen könne („Alles per App“).[12] Die Beklagte habe zudem in ihrer Berufungsbegründung ausgeführt, dass in rund 90% der Fälle, weswegen Patienten einen Arzt aufsuchten, eine persönliche Konsultation des Arztes nicht notwendig sei.[13] Konkreter wird das OLG also ebenso wenig. Die enthaltenen Auszüge aus der Werbung wirken auf den ersten Blick wie aus dem Zusammenhang gerissen.

Das OLG sieht die Werbung als vom Werbeverbot des § 9 HWG nicht gedeckt an und bestätigt das erstinstanzliche Urteil. Das LG München I hatte mit Urteil vom 16. Juli 2019[14] die Beklagte auf Antrag eines eingetragenen Vereins zur Förderung gewerblicher Interessen, insbesondere zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs, verurteilt, „es bei Meidung der gesetzlichen Ordnungsmittel zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr in der Bundesrepublik Deutschland für ärztliche Fernbehandlungen in Form eines digitalen Arztbesuchs zu werben, wobei mittels einer App in Deutschland lebende Patienten, die bei der o AG krankenversichert sind, angeboten wird, über ihr Smartphone von Ärzten, die im Ausland sitzen, Diagnosen, Therapieempfehlungen und Krankschreibungen zu erlangen (…)“.

Im Dezember 2020 bewirbt die Beklagte unter dem Reiter „Arzt Video Call“ die streitgegenständliche App, etwas verändert, wie folgt:

„Nie mehr mit Schnupfen zum Arzt schleppen.

Mit unserem Arzt-Video-Call erhältst du Diagnosen, Rezepte und Krankschreibungen einfach und schnell über die App.Natürlich kannst du auch weiterhin zum Arzt deiner Wahl gehen.“[15]

Der potentielle Interessent kann die App von der Website der Beklagten weder herunterladen noch sich anderweitig unmittelbar für eine Nutzung anmelden. Der einzig vorhandene Button enthält die Worte: „Finde den passenden Tarif“. Bei Betätigung dieses Buttons gelangt man auf die Unterseite „/online-beitragsrechner“ und in einen Chat mit „Isabel“, mit deren Hilfe der individuelle Versicherungsbeitrag berechnet werden soll:

„Du bist neugierig auf deinen Versicherungstarif?

Zusammen berechnen wir deinen individuellen Beitrag.

In wenigen Schritten zu deinem unverbindlichen Versicherungsangebot für die private Kranken-, Zahnzusatz- oder Krankenhauszusatzversicherung.“ [16]

Um eine App zur Fernbehandlung geht es hier also nicht, sondern um den Abschluss eines Vertrags über eine private Krankenversicherung.

Das Urteil des OLG ist noch nicht rechtskräftig.[17]


III.  Rechtslage und -entwicklung

1. Entwurf eines Gesetzes über die Werbung auf dem Gebiete des Heilwesens von 1964[18]

Die Vorgängervorschrift von § 9 HWG, der ursprüngliche § 6 Abs. 2, lautete:

Für eine Fernbehandlung darf nicht geworben werden. Eine Fernbehandlung ist die Erkennung oder Behandlung von Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhaften Beschwerden, die nicht auf eigener Wahrnehmung an dem zu behandelnden Menschen oder Tier beruht.

Begründet wurde der Vorschriftsentwurf wie folgt:

„Ebenso wie gegen eine Fernbehandlung bestehen auch gegen die Werbung für eine Fernbehandlung erhebliche gesundheitliche Bedenken. Eine Fernbehandlung im Sinne dieses Gesetzes liegt bereits bei der Stellung einer Diagnose am Menschen oder Tier vor, die nicht auf eigener Wahrnehmung beruht (Absatz 2).“

§ 9 S. 1 HWG ist damit fast 60 Jahre alt.


2. Berufsrechtliche Lockerungen im Einklang mit ärztlicher Therapiefreiheit und Patienten-Selbstbestimmungsrecht

Im Zuge der Digitalisierung, die auch an Arztpraxen und Krankenhäusern nicht vorbeigehen kann, wurden das Berufsrecht der Ärzte schrittweise gelockert:

§7 Abs. 4 MBO-Ä verbot zunächst die ausschließliche Fernbehandlung. Ein vorausgehender direkter Arzt-Patienten-Kontakt war stets erforderlich. Zulässig waren lediglich allgemeine Erörterungen oder Beratungen in Bezug auf die Behebung von Befindlichkeitsstörungen oder eher allgemeinen Fragen betreffend Krankheiten eines im Übrigen gesunden Patienten, die z.B. durch Selbstmedikation behandelt werden können, etwa bei einer Erkältung.[19] Der neugefasste, aktuelle § 7 Abs. 4 MBO-Ä lautet:

1Ärztinnen und Ärzte beraten und behandeln Patientinnen und Patienten im persönlichen Kontakt. 2Sie können dabei Kommunikationsmedien unterstützend einsetzen. 3Eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien ist im Einzelfall erlaubt, wenn dies ärztlich vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt insbesondere durch die Art und Weise der Befunderhebung, Beratung, Behandlung sowie Dokumentation gewahrt wird und die Patientin oder der Patient auch über die Besonderheiten der ausschließlichen Beratung und Behandlung über Kommunikationsmedien aufgeklärt wird.

§ 7 Abs. 4 MBO-Ä ist in 14 von 16 Berufsordnungen der Landesärztekammern nahezu in identischem Wortlaut übernommen worden.[20] Schleswig-Holstein hat den Wortlaut erheblich abgewandelt; die Kernaussage, die Erlaubnis ausschließlicher Fernbehandlung im Einzelfall, ist jedoch übernommen worden. Lediglich die Brandenburger Ärztekammer hat § 7 Abs. 4 MBO-Ä nicht übernommen. Sie verbietet die ausschließliche Fernbehandlung ausnahmslos, als hätte sie die Änderung nie zur Kenntnis genommen.

Durch die Änderungen soll den Patienten mit der Fort- und Weiterentwicklung telemedizinischer, digitaler, diagnostischer und anderer vergleichbarer Möglichkeiten eine dem anerkannten Stand medizinischer Erkenntnisse entsprechende Versorgung angeboten werden.[21] Es fand also eine Wendung statt hin zu der therapeutischen Freiheit des Arztes als Grundfeste ärztlicher Berufsausübung einerseits aber auch zu mehr Patientenautonomie als ärztlichen Handlungsrahmen andererseits.[22] Ärzten und Patienten wird offenbar grundsätzlich zugetraut, selbst zu entscheiden, ob eine Fernbehandlung unter Einsatz von Telekommunikationsmedien gewünscht und im Einzelfall für die Behandlung geeignet ist.[23]

Dass der persönliche Kontakt „Goldstandard“[24] ist, wird durch § 7 Abs. 4 S. 3 MBO-Ä nicht in Abrede gestellt. Er bildet weiterhin den Regelfall. Vielmehr ist § 7 Abs. 4 S. 3 MBO-Ä dem § 630a Abs. 2 BGB, der zivilrechtlichen Vorschrift zum Behandlungsvertrag, angenähert worden:

Die Behandlung hat nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen, soweit nicht etwas anderes vereinbart ist.

Eine Ausnahme vom „Goldstandard“, also eine ausschließliche Fernbehandlung ist ausdrücklich erlaubt, wenn dies ärztlich vertretbar ist, die erforderliche ärztliche Sorgfalt gewahrt wird und der Patient über die Besonderheiten der ausschließlichen Fernbehandlung aufgeklärt wird. Das bedeutet, dass der Arzt zu Beginn einer angedachten Fernbehandlung zunächst prüfen muss, ob der über die verwendeten Fernkommunikationsmittel mögliche Erkenntnisgewinn für eine fachgerechte Diagnose und Therapie ausreichend ist.[25] Bestehen hieran Zweifel, ist dem Patienten ein persönlicher Arztbesuch anzuraten und die weitere Fernbehandlung abzulehnen.[26]

Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten innerhalb der Grenzen der guten Sitten (§ 138 BGB und § 228 StGB) und die Therapiefreiheit des Behandelnden, die geeignete diagnostische oder therapeutische Methode auszuwählen,[27] können nach § 630a Abs. 2 Halbsatz 2 BGB von den Parteien grundsätzlich gemeinsam aufeinander abge- und bestimmt werden. Zu den Inhalten solcher Abweichungsvereinbarungen gehören etwa die Verwendung nicht zugelassener Medikamente und neue Behandlungsmethoden sowie Behandlungen selbst, bei denen anerkannte fachliche Standards unterschritten werden.[28] Einseitig, z.B. durch Allgemeine Geschäftsbedingungen, kann der Behandelnde jedoch keine abweichenden Standards zum Vertragsinhalt machen.[29]


3. Das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG)

Der neue § 9 HWG wurde mit dem DVG mit Wirkung vom 19. Dezember 2019 eingeführt. In der Gesetzesbegründung wird zunächst auf ein durch die alte Gesetzeslage begründetes Erschwernis hingewiesen, benötigte telemedizinische Anwendungen in Deutschland einzuführen. Der vollständigen Aufhebung des Verbots stünde jedoch der von ihm zugrunde liegende Schutzbedarf entgegen.

„Die derzeitigen Regelungen des § 9 des Heilmittelwerbegesetzes (HWG) erschweren die flächendecke Einführung telemedizinischer Anwendungen. Einer vollständigen Aufhebung der Regelung des § 9 HWG steht entgegen, dass auch nach Aufhebung der Schutzbedarf fortbesteht. Dies betrifft nicht zuletzt das Bewerben von Fernbehandlungen, die durch Personen angeboten werden, bei denen weder die Fernbehandlung noch das Bewerben der Fernbehandlung durch eine rechtlich verbindliche Berufsordnung geregelt werden.“ [30] 

Der Gesetzgeberwille ist erkennbar, dass der neue § 9 HWG an das moderne ärztliche Berufsrecht angepasst werden soll, konkret an die Einzelfallentscheidung des Arztes, ob eine Fernbehandlung mit dem anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse vereinbar ist:

„Die Änderung des § 9 HWG vollzieht die durch Beschluss des 121. Deutschen Ärztetages erfolgte Anpassung des ärztlichen Berufsrechtes im Hinblick auf die Reichweite des Werbeverbotes nach. (…)“[31]

Konkret verweist der Gesetzgeber auf § 7 Abs. 4 MBO-Ä und auf unterschiedliche Umsetzungen des § 7 Abs. 4 MBO-Ä in den Berufsordnungen der Bundesländer:

„Gleichzeitig trägt die Regelung einer Weiterentwicklung telemedizinischer Möglichkeiten Rechnung. Die Umsetzung der Anpassung des § 7 Absatz 4 der MBO-Ä ist in den einzelnen Berufsordnungen auf Länderebene sehr unterschiedlich erfolgt.“

Das ist so nicht richtig, wie oben bereits herausgearbeitet wurde.[32] Lediglich die Brandenburger Ärztekammer hat § 7 Abs. 4 MBO-Ä nicht übernommen. Ungeachtet dieses eher seltsam anmutenden Einzelfalls stimmt also die Grundlage der Entscheidung des Gesetzgebers nicht (mehr), auf welche bezogen er weiter ausführt:

„Im Gegensatz zu der berufsrechtlich vorgesehenen, konkreten und individuellen Einzelfallentscheidung kann es im Rahmen der Regelung des § 9 HWG zudem lediglich auf eine abstrakte, generalisierende Bewertung ankommen, da sich Werbung unabhängig von einer konkreten Behandlungssituation an eine Vielzahl individuell nicht näher individualisierter Personen richtet. Es dürfen dabei nur solche Fernbehandlungen bei Menschen beworben werden, bei denen die Einhaltung anerkannter fachlicher Standards gesichert ist. Dies ist dann der Fall, wenn nach dem anerkannten medizinischen Stand der Erkenntnisse eine ordnungsgemäße Behandlung und Beratung unter Einsatz von Kommunikationsmedien grundsätzlich möglich ist.“[33]

Ausweislich vorstehender Rechtsgrundlagen ist auch diese Darstellung nicht widerspruchsfrei, denn Werbung ist selten einzelfallbezogen, d.h. konkret auf einen Menschen und seine Bedürfnisse abgestimmt. Vielmehr befindet sich der „Bewerbende“ dann schon in einem Gespräch mit dem potentiellen Patienten. Dann handelt es sich jedoch eher um ein Beratungs- oder Vorbereitungsgespräch, in dem Arzt und Patient die Modalitäten der Behandlung bzw. des Behandlungsvertrags im Einklang mit der ärztlichen Therapiefreiheit und dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten klären. Mit dem letzten Satz missachtet der Gesetzgeber gar die Therapiefreiheit des Arztes und damit die Grundfesten seiner Berufsausübung, i.e. die Berufsfreiheit des Arztes nach Art. 12 Abs. 1 GG. Insgesamt zeigt sich, dass nicht sauber unterschieden wurde zwischen den technischen Möglichkeiten der Telemedizin per se, dem tatsächlichen Können und rechtlichen Dürfen der Ärzte sowie der Werbung für Fernbehandlungen selbst.


4. Was ist nicht vom Werbeverbot des § 9 HWG umfasst?

Der Begriff der Fernbehandlung erfasst die Diagnose und die Therapie, nicht jedoch die Vorbeugung und Verhütung.[34] Letztere sind auch vom weitergehenden Begriff der Telemedizin erfasst, welcher im deutschen Recht nicht definiert ist. Fernbehandlung und Telemedizin sind daher nicht synonym zu verstehen. Sie werden nicht einheitlich und mitunter gar synonym verwendet. Der Begriff der Telemedizin selbst wird unterschiedlich aufgefasst:

Telemedizin wird insbesondere als dritte Säule der Gesundheitstelematik neben Telekonsil und Telemonitoring verstanden.[35]  Telemedizin bildet hier den Oberbegriff für Ferndiagnostik und Ferntherapie[36] und beschreibt im Allgemeinen die Erbringung medizinischer Leistungen zugunsten von Patienten über räumliche Entfernung und/oder zeitlichen Versatz durch den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologie.[37]

Telemedizin wird daneben auch als Oberbegriff für Telekooperation, Teletherapie und Telemonitoring unterschieden.[38] Telekooperation meint hier primär die unabhängige Zusammenarbeit zwischen den Professionen, v.a. innerhalb der Ärzteschaft (Telefonkonsil).[39] Telemonitoring beschreibt die dauerhafte Begleitung und Beobachtung eines Patienten, ohne persönlich anwesend zu sein.[40] Dazu gehören auch sog. Gewichts- oder Fitnesstracker. Teletherapie umfasst in diesem Fall die Ferndiagnostik und Ferntherapie.[41]

Vor einer rechtlichen Bewertung von „Telemedizin“ ist also immer erforderlich zu eruieren, wovon im konkreten Fall die Rede ist.


IV. Die Urteilsgründe

Das Urteil ist in vielerlei Hinsicht juristisch interessant. Besonders praxisrelevant ist die grenzüberschreitende Bewerbung von Fernbehandlungen per App – so ein solcher Bezug zu verschiedenen Staaten tatsächlich vorliegt:


1. Kollisionsrecht: Welches Recht ist bei grenzüberschreitender Bewerbung anwendbar?

Das OLG München hat die Ansicht des LG München I bestätigt, dass im Falle einer aus der Schweiz an deutsche Patienten angebotenen App die Rom-II-VO[42] Anwendung findet. Diese Verordnung gilt gemäß Art. 1 Abs. 1 S. 1 Rom-II-VO für außervertragliche Schuldverhältnisse, wiederum näher bestimmt in Art. 2 Rom-II-VO, in nicht nach Art. 1 Abs. 2 Rom-II-VO ausgeschlossenen Zivil- und Handelssachen, die eine Verbindung zum Recht verschiedener Staaten aufweisen. Konkret hat das OLG entschieden, dass Art. 6 Abs. 1 Rom-II-VO anwendbar ist. Danach gilt:

Auf außervertragliche Schuldverhältnisse aus unlauterem Wettbewerbsverhalten ist das Recht des Staates anzuwenden, in dessen Gebiet die Wettbewerbsbeziehungen oder die kollektiven Interessen der Verbraucher beeinträchtigt worden sind oder wahrscheinlich beeinträchtigt werden.

Weil die in Streit stehende Werbung, welche sich an deutsche Patienten richtete, unstreitig über eine deutschsprachige Website mit der Top Level Domain „.de“ erfolgte, sahen die Gerichte Art. 6 Abs. 1 Rom-II-VO als anwendbar an. Bei Werbemaßnahmen liege der Marktort, d.h. der Ort der wettbewerblichen Interessenskollision,[43] grundsätzlich dort, wo die Werbemaßnahme auf den Kunden einwirkt, selbst wenn der spätere Absatz auf einem anderen Markt stattfinden soll.[44]

Das ist grundsätzlich richtig. Nur dürfte bei genauerer Fallbetrachtung Art. 1 Abs. 1 S. 1 Rom-II-VO gar nicht vorliegen, weil es tatsächlich um die Bewerbung eines vertraglichen Schuldverhältnisses, konkret den Abschluss einer privaten Krankenversicherung zwischen zwei in Deutschland ansässigen Parteien geht. Daher weist der Fall auch keine Verbindung zum Recht verschiedener Staaten auf. Selbst die Beklagte O, mit der unter Umständen ein Nutzungsvertrag hinsichtlich der App zustande kommen könnte, sitzt in Deutschland. Die Rom-II-VO kommt, nach dieser Auffassung, im konkreten Fall gar nicht zur Anwendung.

Das OLG stellt wie auch das LG auf einen fingierten Behandlungsvertrag fiktiver deutscher, bereits bei der Tochter von O. privat versicherter Patienten mit einem fiktiven Schweizer Arzt ab. Lägen diese Umstände tatsächlich vor, wäre dem OLG in seinen Ausführungen grundsätzlich zuzustimmen.


2. § 9 HWG als Marktverhaltensnorm

§ 9 HWG ist nach Ansicht des OLG dazu bestimmt, im Interesse der Marktteilnehmer das Marktverhalten im Sinne des § 3a UWG zu regeln.[45] Danach handelt unlauter, wer einer gesetzlichen Vorschrift zuwiderhandelt, die auch dazu bestimmt ist, im Interesse der Marktteilnehmer das Marktverhalten zu regeln, und der Verstoß geeignet ist, die Interessen von Verbrauchern, sonstigen Marktteilnehmern oder Mitbewerbern spürbar zu beeinträchtigen. Weil § 9 HWG dem Schutz der Gesundheit der Verbraucher diene, sei eine Verletzung dieser Norm auch eine spürbare Beeinträchtigung im Sinne des § 3 Abs. 1 UWG.[46]

Die Beklagte müsste also Adressatin einer gesetzlichen Vorschrift mit Marktverhaltensregelungscharakter, hier § 9 HWG, sein und dieser zuwidergehandelt haben:


a) Beklagte ist jedoch nicht Adressatin des § 9 HWG

Das OLG stellt schlicht fest, die Beklagte sei Adressatin der Regelung des § 9 HWG.[47] Das Heilmittelwerbegesetz richte sich an jeden Werbungstreibenden, das heiße an alle natürlichen oder juristischen Personen, die an der Verbreitung einer als Werbung im Sinne des Gesetzes einzustufenden Aussage beteiligt bzw. hierfür verantwortlich sind.[48]

Weil es bei der Werbung im vorliegenden Fall um den Abschluss eines Vertrags über eine private Krankenversicherung geht, stellt sich die Frage, ob die Werbung mit der App überhaupt unter das HWG fallen kann. Das HWG richtet sich zwar nicht nur an Heilmittelhersteller und Ärzte, sondern an alle Werbetreibenden, die ihre Produkte im Anwendungsbereich des Gesetzes bewerben.[49] Das HWG erfasst jedoch nur die leistungsbezogene Absatzwerbung, also die produktbezogene Werbung. Im vorliegenden Fall ist die App-Nutzung nicht bepreist und keine unmittelbar in Anspruch nehmbare Leistung. Die App soll vielmehr ein stimmiges Angebot und Image einer vollständig digitalen privaten Krankenversicherung unterstützen. Der Websitebesucher kann die App nicht aufrufen, sondern lediglich die Höhe seines potentiellen Versicherungsbeitrags prüfen (lassen). Wirbt ein Unternehmen für die Gesamtheit seiner Leistungen, liegt vielmehr eine sog. Vertrauens- oder Imagewerbung vor, die nicht dem HWG unterliegt.[50] Sofern die Werbung also nicht auf bestimmte Produkte, sondern pauschal auf Qualität und Preiswürdigkeit der gesamten beworbenen Produktpalette eines Unternehmens lenken soll, besteht nach Auffassung des Gesetzgebers nicht die besondere Risikolage, der das HWG mit der Einbeziehung produktbezogener Werbung in seinem Geltungsbereich entgegenwirken will.[51] Im vorliegenden Fall ist – ohne das Hinzudichten von Sachverhalt[52] – von nichts anderem auszugehen und damit das HWG nicht anwendbar.


b) Ohne Anwendbarkeit des HWG keine Zuwiderhandlung gegen § 9 HWG

Wenn mangels Anwendbarkeit des HWG § 9 HWG nicht verletzt sein kann, liegt auch keine Zuwiderhandlung, mithin auch kein unlauteres Verhalten im Sinne des § 3a UWG vor.


3. Gesetzesänderung

Das OLG, welches anderer Ansicht ist, unterscheidet in seinen Urteilsgründen des Weiteren nach altem und neuem Recht. Denn der Sachverhalt betrifft einen Zeitraum, in dem teilweise der alte § 9 HWG und, seit dem 19. Dezember 2019, der neue § 9 HWG galt. Das OLG stellt daher zum einen die Unzulässigkeit nach § 9 HWG alte Fassung (a.F.) und zum anderen nach § 9 HWG n.F. fest:


a) Unzulässigkeit nach § 9 HWG a.F.

Eine Fernbehandlung im Sinne dieser Vorschrift ist nach dem OLG anzunehmen, wenn allein aufgrund einer schriftlichen, fernmündlichen, über andere Medien oder Dritte auf Distanz vermittelten Information eine Diagnose gestellt oder ein Behandlungsvorschlag erteilt wird, ohne den Patienten persönlich gesehen bzw. untersucht zu haben. [53] Weil die von der Werbung der Beklagten umfasste App eine Online-Video-Konsultation technisch ermöglichen können soll, fällt die beworbene App nach Ansicht des OLG unter das Werbeverbot nach altem Recht.[54] Tatsächlich liegt jedoch gar keine Fernbehandlung vor; das OLG stellt dementsprechend keine solche positiv fest, die einer rechtlichen Prüfung unterzogen werden könnte. Vielmehr liegt lediglich eine – sicherlich überzogene – Behauptung technisch begründeter Möglichkeiten seitens der Beklagten vor, ohne dass sie damit leistungsbezogene, i.e. tatbestandliche Absatzwerbung macht.

Weil das OLG die Kernfragen der Zulässigkeit der Fernbehandlung in berufsrechtlicher sowie behandlungsvertraglicher Hinsicht ausspart, weicht es auf allgemeine Grundsätze abseits des ärztlichen Berufsrechts aus, an welchem der Gesetzgeber das Werbeverbot ausrichten wollte:

„Der mit dem Werbeverbot nach § 9 HWG verbundene Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 I GG/Art. 15 I EU-GRCh) und in die Meinungsfreiheit (Art. 5 I GG/Art. 11 I EU-Grundrechte-Charta) ist im Hinblick auf Art. 2 II GG/Art. 3 I EU-GRCh verfassungsrechtlich gerechtfertigt, weil durch die Werbung mit einer Fernbehandlung allgemein Gefahren für die Gesundheit der betroffenen Patienten begründet werden können (vgl. bereits Senat Urt. v. 25.10.2018 – 6 U 61/18).“ [55]

Mit der Werbung für eine private Krankenversicherung mit einem digitalen Geschäftsmodell werden keine allgemeine Gefahren für die Gesundheit der betroffenen Patienten begründet. Es fehlt bereits am Patienten. Es geht vorliegend um die Gewinnung von (Neu-)Kunden einer privaten Krankenversicherung. Darüber hinaus liegt ein erheblicher Unterschied zwischen einer überzogenen Wortwahl, die erkennbar auf das (Digital-)Image- und nicht leistungsbezogene Absatzwerbung gerichtet ist und einem konkreten Angebot einer Fernbehandlung im Falle von Krankheiten, die offenkundig nicht digital erkannt oder behandelt werden können.


b) Unzulässigkeit nach § 9 HWG n.F.

Gleichwohl hat das OLG – ungeachtet vorstehender Wertungen – jedoch nicht in Gänze Unrecht: Die Beklagte hat etwas beworben, das nicht möglich ist. Die hiesige und die Ansicht des OLG unterscheiden sich lediglich in der Antwort auf die Frage, was konkret nicht möglich ist:

Nach dieser Ansicht hat die Beklagte etwas anderes als Fernbehandlung beworben, nämlich den Abschluss von Versicherungsverträgen. Die Fernbehandlung selbst zu vereinbaren und damit anzubieten ist, erkennbar für den Websitebesucher, ihr oder ihrer Tochtergesellschaft nicht möglich. Der Websitebesucher kann daher auch keine Fernbehandlung durch Schweizer Ärzte über die App in Anspruch nehmen. Sie ist von der Beklagten auch erkennbar nicht gewollt.

Das OLG demgegenüber fingiert den in diesem Szenario fehlenden, eine Fernbehandlung anbietenden Schweizer Arzt und beantwortet die Frage mit der rechtlichen Unmöglichkeit im Sinne der rechtlichen Unzulässigkeit:

„Im Streitfall hat die Bekl. ein digitales Primärversorgungsmodell beworben, bei welchem in der Schweiz ansässige Ärzte gegenüber den in Deutschland lebenden Adressaten der Werbung mittels einer App Diagnosen, Therapieempfehlungen und Krankschreibungen durchführen, wobei „alternativ zum traditionellen Arztbesuch“ der „digitale Arztbesuch per App“ angepriesen wird („Bleib einfach im Bett, wenn Du zum Arzt gehst“). Es wird damit geworben, dass „erstmals in Deutschland“ die komplette ärztliche Versorgung, nämlich „Diagnosen, Therapieempfehlung und Krankschreibung“, mittels einer App online erfolgen könne („Alles per App“). Hierzu führen die Bekl. in ihrer Berufungsbegründung aus, dass in rund 90% der Fälle, weswegen Patienten einen Arzt aufsuchten, eine persönliche Konsultation des Arztes nicht notwendig sei. Diese nicht belegte Behauptung erscheint allerdings wenig nachvollziehbar, nachdem grundsätzlich jeder Krankheitsverdacht nach allgemeinen fachlichen Standards eine Basisuntersuchung erfordert, in der Regel unmittelbar durch Funktionsprüfungen (etwa von Atmung, Kreislauf, Blutdruck) und Besichtigungen, Abtasten, Abklopfen und Abhören des Körpers sowie gegebenenfalls der Erhebung weiterer Laborwerte“. [56]

„Bei einer ausschließlichen Videokonsultation, wie sie im Streitfall beworben wurde, muss sich der Arzt demgegenüber von vornherein auf eine verkürzte Wahrnehmung bei der Anamnese verlassen. Der im Fall einer ausschließlichen Fernbehandlung naheliegende Vorwurf einer Vernachlässigung der Befunderhebungspflicht muss den behandelnden Arzt grundsätzlich zu Vorsicht und Zurückhaltung veranlassen, so dass auch nach der Reform des § 7 IV MBO-Ä bzw. der Berufsordnungen der Landesärztekammern (die insoweit unterschiedliche Neuregelungen aufweisen) bei dem geringsten Zweifel umgehend eine persönliche Untersuchung des Patienten zu veranlassen sein wird“ [57]

Das OLG hält fest, es sei nicht nachprüfbar, ob ein Fall vorliegt, in dem „nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist“, vgl. § 9 S. 2 HWG. Das ist deshalb nicht nachprüfbar, weil das OLG die App von ihrem eigentlichen Zweck, der Bewerbung einer privaten Krankenversicherung mit Digital-Image („Alles per App“), gelöst hat und die Fernbehandlung darüber durch einen Arzt fingiert, der zunächst prüfen müsste, ob eine Fernbehandlung im konkreten Fall in Betracht kommt. Soweit man von der Presse auf die Werbung der Beklagten in 2018 schließen kann, hat die Beklagte private Krankenversicherungen mitsamt einer App angeboten, die

„für allgemeine medizinische Fragen (…) praktisch sein kann“ [58]

und

„natürlich nur eine erste Einschätzung“[59] 

beinhalten kann. Darin ist soweit kein Verstoß gegen § 9 HWG erkennbar, wäre das Gesetz anwendbar. Insofern bliebe gerichtlich zu prüfen, inwiefern vereinzelt erkennbar übertriebene Formulierungen ohne praktische Bedeutung eine Verurteilung rechtfertigen können.


4. Zwischenergebnis: Das Urteil ist wohl fehlerhaft

Nach Würdigung des vollständigen Sachverhalts ohne Veränderungen sowie der Rechtslage kann das Urteil des OLG keinen Bestand haben. Insofern bleibt mit Spannung zu erwarten, ob und wie der BGH entscheidet.


VII.  § 9 HWG sollte angepasst werden

Wie sich gezeigt hat, beruht der neue § 9 HWG auf Fehlern in der Willensbildung und Ungenauigkeiten in der Kundgabe des Willens des Gesetzgebers. Orientiert an einem unzureichenden Prüfungsmaßstab baut das OLG, ebenfalls unter Nichtbefassung mit dem tatsächlichen Können und rechtlichen Dürfen der Ärzte selbst, einen Sachverhalt zusammen, der sich so jedoch nicht zugetragen hat. 

Daneben wird der durchschnittliche Patient ohne eine allgemeine Information über die grundsätzlich technische Möglichkeit der Fernbehandlung durch einen Arzt sein Selbstbestimmungsrecht nicht ausüben können. Gerade in Zeiten wie der Corona-Pandemie dürfte sich die fehlende Information über die grundsätzlich gegebene technische Möglichkeit der Fernbehandlung zulasten Patienten und Ärzte auswirken. Die schlimmste Konsequenz wäre, dass aus Angst vor Kontakt mit anderen die Ansprache eines Arztes gemieden, potentielle Anzeichen von Krankheiten oder Verletzungen unausgesprochen und übersehen bleiben, die eine unumkehrbare Verschlechterung des Zustands hätten verhindern können.

Ein neu gefasster § 9 S. 2 HWG muss im Einklang mit dem ärztlichen Berufsrecht stehen. Der aktuelle § 9 S. 2 HWG tut dies – ausweislich des Urteils des OLG – nicht.

V

V


[1]  Text in der Fassung des Artikels 5 Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) G. v. 9. Dezember 2019 BGBl. I S. 2562 m.W.v. 19. Dezember 2019

[2]  OLG München, Urteil vom 9. Juli 2020, Az. 6 U 5180/19 – die Revision wurde nicht zugelassen. Die Nichtzulassungsbeschwerde wird beim Bundesgerichtshof (BGH) unter dem Az. I ZR 146/20 geführt.

[3]  Ungeachtet der konkreten Formulierung sind stets alle Geschlechter gemeint.

[4]  OLG München, Urteil vom 9. Juli 2020, Az. 6 U 5180/19, GRUR-RR 2020, 461 (464, Rn 48).

[5]  Juve, „Bleib einfach im Bett“: BLD-Mandantin Ottonova darf nicht mit Ferndiagnose werben, 21. Juli 2020, https://www.juve.de/nachrichten/verfahren/2020/07/bleib-einfach-im-bett-bld-mandantin-ottonova-darf-nicht-mit-ferndiagnose-werben (zuletzt abgerufen am 12. Dezember 2020).

[6]  Bakir in Stern, „Ottonova: Was kann die digitale Krankenversicherung, für die Frank Thelen wirbt?“, 24. Juli 2018, https://www.stern.de/wirtschaft/versicherung/ottonova–was-kann-die-krankenversicherung–fuer-die-frank-thelen-wirbt–8176564.html (zuletzt abgerufen am 12. Dezember 2020).

[7]  Bakir in Stern, „Ottonova: Was kann die digitale Krankenversicherung, für die Frank Thelen wirbt?“, 24. Juli 2018, https://www.stern.de/wirtschaft/versicherung/ottonova–was-kann-die-krankenversicherung–fuer-die-frank-thelen-wirbt–8176564.html (zuletzt abgerufen am 12. Dezember 2020).

[8]  Bakir in Stern, „Ottonova: Was kann die digitale Krankenversicherung, für die Frank Thelen wirbt?“, 24. Juli 2018, https://www.stern.de/wirtschaft/versicherung/ottonova–was-kann-die-krankenversicherung–fuer-die-frank-thelen-wirbt–8176564.html (zuletzt abgerufen am 12. Dezember 2020).

[9]  Bakir in Stern, „Ottonova: Was kann die digitale Krankenversicherung, für die Frank Thelen wirbt?“, 24. Juli 2018, https://www.stern.de/wirtschaft/versicherung/ottonova–was-kann-die-krankenversicherung–fuer-die-frank-thelen-wirbt–8176564.html (zuletzt abgerufen am 12. Dezember 2020).

[10]  Bakir in Stern, „Ottonova: Was kann die digitale Krankenversicherung, für die Frank Thelen wirbt?“, 24. Juli 2018, https://www.stern.de/wirtschaft/versicherung/ottonova–was-kann-die-krankenversicherung–fuer-die-frank-thelen-wirbt–8176564.html (zuletzt abgerufen am 12. Dezember 2020).

[11]  Schnell in Handelsblatt, Ottonova bekommt 60 Millionen frisches Kapital, 25. November 2019, https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/versicherer-ottonova-bekommt-60-millionen-euro-frisches-kapital/25266338.html?ticket=ST-10609029-LKPZVJOPI6rkGSUbkfp3-ap3 (zuletzt abgerufen am 12. Dezember 2020).

[12]  OLG München, Urteil vom 9. Juli 2020, Az. 6 U 5180/19, GRUR-RR 2020, 461 (464, Rn 48).

[13]  OLG München, Urteil vom 9. Juli 2020, Az. 6 U 5180/19, GRUR-RR 2020, 461 (464, Rn 48).

[14]  LG München I, Urteil vom 16. Juli 2019, Az. 33 O 4026/18.

[15]  https://www.ottonova.de/.

[16]  https://www.ottonova.de/online-beitragsrechner/.

[17]  Vgl. Fn 2 mit Hinweis auf das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren.

[18]  BT-Drs. 4/1867, http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/04/018/0401867.pdf, S. 9 (siehe dort § 6).

[19]  Fehn in Marx/Marx, Telemedizin, Springer 2021, 24 (31).

[20]  Siehe Anlage zu diesem Artikel.

[21]  Fehn in Marx/Marx, Telemedizin, Springer 2021, 24 (32); Beschluss IV-01 des 121. Deutschen Ärztetages Erfurt 8.–11. Mai 2018, Beschlussprotokoll, S. 288– 290, http://www.bundesaerztekammer.de (zuletzt abgerufen am 12. Dezember 2020); siehe auch Deutsches Ärzteblatt vom 15. Juni 2018, https://doi.org/10.3238/arztebl.2015. mbo_daet2018 (zuletzt abgerufen am 12. Dezember 2020).

[22]  Fehn in Marx/Marx, Telemedizin, Springer 2021, 24 (32).

[23]  Fehn in Marx/Marx, Telemedizin, Springer 2021, 24 (32).

[24]  Fehn in Marx/Marx, Telemedizin, Springer 2021, 24 (32); Beschluss IV-01 des 121. Deutschen Ärztetages Erfurt 8.–11. Mai 2018, Beschlussprotokoll, S. 288– 290, http://www.bundesaerztekammer.de (zuletzt abgerufen am 12. Dezember 2020); siehe auch Deutsches Ärzteblatt vom 15. Juni 2018, https://doi.org/10.3238/arztebl.2015. mbo_daet2018 (zuletzt abgerufen am 12. Dezember 2020).

[25]  Fehn in Marx/Marx, Telemedizin, Springer 2021, 24 (34).

[26]  Fehn in Marx/Marx, Telemedizin, Springer 2021, 24 (34).

[27]  Weidenkaff in Palandt, § 630a, Rn 12.

[28]  Weidenkaff in Palandt, § 630a, Rn 12.

[29]  Weidenkaff in Palandt, § 630a, Rn 12.

[30]  BT-Drs. 19/13438, https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/134/1913438.pdf, S. 77f.

[31]  BT-Drs. 19/13438, https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/134/1913438.pdf, S. 77f.

[32]  Siehe Anlage zu diesem Artikel.

[33]  BT-Drs. 19/13438, https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/134/1913438.pdf, S. 77f.

[34]  WiKo, § 9 HWG, Lfg. 22, Juli 2020.

[35]  Lesenswerte Übersicht der Begriffsbeschreibungen bei Fehn in Marx/Marx, Telemedizin, Springer 2021, 3 (6 ff).

[36]  Fehn in Marx/Marx, Telemedizin, Springer 2021, 24 (26).

[37]  Fehn in Marx/Marx, Telemedizin, Springer 2021, 24 (27).

[38]  So z.B. Beckers et al. in Marx/Marx, Telemedizin, Springer 2021, 3 (6).

[39]  So z.B. Beckers et al. in Marx/Marx, Telemedizin, Springer 2021, 3 (6).

[40]  So z.B. Beckers et al. in Marx/Marx, Telemedizin, Springer 2021, 3 (6).

[41]  So z.B. Beckers et al. in Marx/Marx, Telemedizin, Springer 2021, 3 (7).

[42]  Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, ABl. 2007 L 199/40.

[43]  OLG München, Urteil vom 9. Juli 2020, Az. 6 U 5180/19, GRUR-RR 2020, 461 (461).

[44]  OLG München, Urteil vom 9. Juli 2020, Az. 6 U 5180/19, GRUR-RR 2020, 461 (462) mit Zitat BeckOGK/Poelzig/Windorfer, 1.8.2018, Rom-II-VO Art. 6 Rn. 78.

[45]  OLG München, Urteil vom 9. Juli 2020, Az. 6 U 5180/19, GRUR-RR 2020, 461 (462, Rn 50).

[46]  OLG München, Urteil vom 9. Juli 2020, Az. 6 U 5180/19, GRUR-RR 2020, 461 (462, Rn 50).

[47]  OLG München, Urteil vom 9. Juli 2020, Az. 6 U 5180/19, GRUR-RR 2020, 461 (462, Rn 38).

[48]  OLG München, Urteil vom 9. Juli 2020, Az. 6 U 5180/19, GRUR-RR 2020, 461 (462, Rn 38).

[49]  WiKo, § 1 HWG, Lfg. 12, Februar 2013, Rn 7 mit Verweis auf BGH, GRUR 2001, 453.

[50]  WiKo, § 1 HWG, Lfg. 12, Februar 2013, Rn 8 mwN.

[51]  WiKo, § 1 HWG, Lfg. 12, Februar 2013, Rn 8 mwN.

[52]  Hier einem fiktiven Behandlungsvertrag mit einem fiktiven Schweizer Arzt.

[53]  OLG München, Urteil vom 9. Juli 2020, Az. 6 U 5180/19, GRUR-RR 2020, 461 (462) mwN.

[54]  OLG München, Urteil vom 9. Juli 2020, Az. 6 U 5180/19, GRUR-RR 2020, 461 (462) mwN.

[55]  OLG München, Urteil vom 9. Juli 2020, Az. 6 U 5180/19, GRUR-RR 2020, 461 (462, Rn 45) mwN.

[56]  OLG München, Urteil vom 9. Juli 2020, Az. 6 U 5180/19, GRUR-RR 2020, 461 (462, Rn 48) mwN.

[57]  OLG München, Urteil vom 9. Juli 2020, Az. 6 U 5180/19, GRUR-RR 2020, 461 (462, Rn 48) mwN.

[58]  Bakir in Stern, „Ottonova: Was kann die digitale Krankenversicherung, für die Frank Thelen wirbt?“, 24. Juli 2018, https://www.stern.de/wirtschaft/versicherung/ottonova–was-kann-die-krankenversicherung–fuer-die-frank-thelen-wirbt–8176564.html (zuletzt abgerufen am 12. Dezember 2020).

[59]  Bakir in Stern, „Ottonova: Was kann die digitale Krankenversicherung, für die Frank Thelen wirbt?“, 24. Juli 2018, https://www.stern.de/wirtschaft/versicherung/ottonova–was-kann-die-krankenversicherung–fuer-die-frank-thelen-wirbt–8176564.html (zuletzt abgerufen am 12. Dezember 2020).

Titelbild: © Romolo Tavani, Adobe Stock, Nr. 211657921

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