Ri 03/2018: Sind Geheimnisse noch schützenswert?

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Die geheimnislose Gesellschaft

Eine kleine Utopie der Transparenz

Stefan Heinrichs*

„Sie konnte mir kein Wörtchen sagen,

Zu viele Lauscher waren wach;

Den Blick nur durft‘ ich schüchtern fragen,

Und wohl verstand ich, was er sprach.

 

Leis komm ich her in deine Stille,

Du schön belaubtes Buchenzelt,

Verbirg in deiner grünen Hülle

Die Liebenden dem Aug der Welt!“

(aus: Friedrich Schiller, Das Geheimnis)


Die Befreiung der Liebe

Was heute an despotische Unrechtsstaaten erinnert, war für Friedrich Schiller vor rund 200 Jahren noch deutsche Realität: Junge Liebende verbargen ihre Zuneigung vor der Öffentlichkeit. Küsse wurden zunächst allenfalls unter den verschwiegenen Blättern abgelegener Buchenwäldchen ausgetauscht. Nur das Geheimnis schützte sie vor dem zerstörerischen Zorn einer moralisierenden Öffentlichkeit.

Und auch heute noch schützt das Geheimnis viele Menschen in aller Welt vor Verfolgung. Verfolgung wegen ihrer politischen Ansichten, journalistischen Tätigkeit, weltanschaulichen Überzeugungen oder sexuellen Präferenzen. Ein Hohelied auf das Geheimnis also, das seine schützende Hand über uns hält? ___STEADY_PAYWALL___

Nun, jedenfalls in Liebesangelegenheiten war es nicht die konsequente Geheimhaltung, die dazu führte, dass junge Menschen jeden Pronomens im Deutschland des 21. Jahrhunderts ihren Beziehungsstatus posten können und dafür Likes statt Probleme bekommen. Ein wichtiger Grund für diese befreiende Entwicklung bestand vielmehr darin, dass die Geheimnisse gelüftet, der Gesellschaft die Augen für die Betroffenen und die ihnen widerfahrende Ungerechtigkeit geöffnet wurden.

Friedrich Schiller trug seinen Teil dazu bei. Als Anhänger der Aufklärung, einer europäischen Reformbewegung, die die Gesellschaft von überholten Ideologien befreien wollte, verfasste er das Drama „Kabale und Liebe“. In diesem Drama entfesselt Schiller die ganze Macht einer überholten Gesellschaft und lässt ein junges Liebespaar darunter leiden, bis die Gequälten schließlich einen ungerechten Tod sterben. Die Geschichte ist eingängig und jeder Mensch mit Herz erkennt, dass die Anpassung des eigenen Lebens an überkommene Konventionen oder die Geheimhaltung keine Lösungen sind, sondern dass die Gesellschaft sich ändern muss.

Schiller war dabei nur einer von vielen, die mit ihrem aufklärerischen Wirken die Gesellschaft modernisieren wollten. Auf ihn folgten viele Künstler*innen, die mit ihren Werken den eingeschlagenen Weg der Befreiung der Liebe von der Bürde des Geheimnisses fortsetzten – von Lew Tolstois „Anna Karenina“ bis zu Annie Proulx‘ „Brokeback Mountain“, das durch Ang Lees Verfilmung weltberühmt wurde.

Noch größer war der Einfluss prominenter Frauen und Männer, die ihr persönliches Geheimnis öffentlich machten und auf diese Weise der Skandalisierung und Unterdrückung entgegenwirkten. Nachdem die spätere Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner für ihre Hochzeit mit einem unerwünschten Ehemann noch enterbt und nach Georgien getrieben wurde, konnte die Tänzerin und Schauspielerin Valeska Gert schon wenige Jahrzehnte später auf den großen Bühnen des Landes Orgasmen inszenieren. Liebe und Sex verließen in den Zwanzigern die Verschwiegenheit von Schillers Buchenwäldchen und zogen in den Sechzigern von den babylonischen Bühnen Berlins in die Kommune I.

Den Weg zur Ehe für alle ebneten viele weitere mutige Menschen, die ihr Geheimnis offenbarten, unter ihnen der Politiker Klaus Wowereit, der Nationalspieler Thomas Hitzlsperger oder die Oscar-Preisträgerin Jodie Foster.


Offenbarung als Fortschrittsmotor

Doch nicht nur in Fragen der Liebe und des Sex wurde die Gesellschaft durch die Offenbarung von Geheimnissen lebenswerter. So gilt bis heute die von der Feministin Alice Schwarzer initiierte Stern-Schlagzeile „Wir haben abgetrieben!“ aus dem Jahr 1971 als Meilenstein der Debatte um das ehemalige Tabuthema Schwangerschaftsabbruch. Zahlreiche Frauen, unter ihnen die Schauspielerinnen Senta Berger und Romy Schneider, offenbarten ihre geheim gehaltenen Schwangerschaftsabbrüche der Öffentlichkeit.

Auch heute erleben wir das Brechen des Schweigens und empfinden es erneut als wichtigen Schritt auf dem langen Weg der Modernisierung unserer Gesellschaft: In der #metoo-Bewegung geben Frauen ihre persönlichen Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt öffentlich wieder und führen der Gesellschaft das erschreckende Ausmaß dieser bislang weitgehend geheim gehaltenen Verbrechen vor Augen. Auch hier wird der Verlust des Geheimnisses die Gesellschaft voranbringen und persönliches Leid mindern.


Geheimnisse sind nicht schützenswert

In vielen Bereichen hat das Geheimnis also einzelne Menschen geschützt, seine Offenbarung aber hat die Gesellschaft verbessert und damit allen geholfen. Dennoch steht das Geheimnis als Konzept in der öffentlichen Meinung hoch im Kurs. Die Rechtsordnung kennt und schützt etliche Arten des Geheimnisses: Datengeheimnis, Steuergeheimnis, Briefgeheimnis oder Arzt- und Anwaltsgeheimnis, um nur einige zu nennen.

Auch im Privaten legen die meisten Menschen Wert auf Verschwiegenheit. Auf Twitter heißen alle Kinder K1 bis K4 und selbst Freunden zeigt man lieber sein Auto als seine Gehaltsabrechnung. Fragt der Personaler im Vorstellungsgespräch nach Religion oder Schwangerschaften, endet das oft vor dem Arbeitsgericht. Manchmal versuchen wir zu vermeiden, dass andere wissen, was unsere Bank weiß, und dass unsere Bank erfährt, was andere über uns wissen. Ganz zu schweigen von der Vielzahl unserer täglichen Gewohnheiten – Standorte, Einkäufe, Filmgeschmack.

Gleichzeitig war es vielleicht nie schwieriger, Geheimnisse zu bewahren. Wen wir kennen, wen wir küssen, wie wir aussehen, was wir schreiben, was wir lesen, was wir kaufen, wo wir waren und wo wir sind – unsere gesamte Interaktion mit der Außenwelt verlagert sich in atemberaubender Geschwindigkeit ins Telefon und von dort in Netzwerke, wo nahezu jede Information gespeichert, vernetzt und durch künstliche Intelligenz ausgewertet wird oder werden kann. Ob die große gesetzgeberische Anstrengung, diese Ent-wicklung durch Datenschutzvorschriften zu ordnen und zu steuern, erfolgreich sein wird, ist offen. Sicher ist aber, dass viele Menschen mit Sorge in eine Zukunft blicken, in der Geheimnisse nicht überleben können. Begriffe wie Datenkrake, Überwachungsstaat und gläserner Bürger be-herrschen die Debatte. Nicht wenige warnen vor einer dystopischen Gesellschaft.

Doch ist das Geheimnis wirklich eine Errungenschaft, die es zu verteidigen lohnt? Ist das Geheimnis mehr als nur ein notdürftiger Schutz in bedrohlichen Situationen? Lassen sich die Erfahrungen mit der Befreiung der Liebe auf alle Bereiche unseres Lebens übertragen? Können wir vielleicht durch den Verzicht auf jedes Geheimnis, durch maximale Transparenz, eine neue, bessere Gesellschaft werden?


Das Geheimnis ist der Transparenz unterlegen

Ich glaube das, auch wenn ich den Beweis zu meinen Lebzeiten wohl schuldig bleiben werde. Eine Gesellschaft ohne Geheimnisse erscheint mir dennoch als hoffnungs-volle Utopie. Das hat im Wesentlichen drei Gründe:

Geheimnisse werden missbraucht.

Geheimnisse schützen, aber Öffentlichkeit schützt besser.

Der Nutzen völliger Transparenz wird größer sein als der Nutzen von Geheimnissen.


Der Missbrauch des Geheimnisses

Was ist schon ein Geheimnis? Es ist ein Informationsgefälle. Ich weiß etwas, was Du nicht weißt. Und da alle Menschen versuchen, ihre Entscheidungen auf der Grundlage ihrer persönlichen Kenntnisse zu treffen, kann ich das Verhalten anderer Menschen manipulieren, indem ich ihnen Infor-mationen vorenthalte. Damit ist das Geheimnis die nette Schwester der Lüge, bei der ich anderen kein Wissen vorenthalte, sondern sie mit falschen Informationen ver-sorge.

Lügen sind verpönt, seit Moses vom Gipfel des Berges Sinai herabstieg. Geheimnisse hingegen gelten gemeinhin als edler, obwohl sie zu Manipulation und Missbrauch nicht weniger geeignet sind. Drei Beispiele:


Bankgeheimnis

Grundsätzlich verpflichtet das Bankgeheimnis die Kredit-institute zur Verschwiegenheit über die finanziellen Angele-genheiten ihrer Kund*innen. Doch wie wir heute wissen, nutzten zahlreiche Menschen das Bankgeheimnis, um Steuern in Milliardenhöhe zu hinterziehen. Die Sache flog auf, die Staaten schritten ein und das Bankgeheimnis existiert praktisch nicht mehr.


Geheimdienste und Staat

Die Staaten selbst sind jedoch nicht viel besser als Steuer-hinterzieher*innen, wenn es um den Missbrauch des Rechts auf Geheimnisse geht. Zwar gestatteten die Wähler*innen dem Staat den sehr geheimen Umgang mit sehr geheimen Geheimdiensten, doch einige Dienste missbrauchten dieses Privileg zur massenhaften Überwachung der glo-balen Kommunikation. Edward Snowden machte diese Praxis publik und den Begriff des Whistleblowers populär. Inzwischen genießen Whistleblower gesetzlichen Schutz, Geheimnisverrat als Heldentat also.

Doch auch ohne die NSA-Affäre sinkt der Stern des staatlich gehüteten Geheimnisses. Informationsfreiheitsgesetze rücken ihm zu Leibe, und es ist nicht ausgeschlossen, dass schon bald jedes Dokument staatlichen Handelns online einsehbar sein könnte. Das Ende des Staatsgeheimnisses ist eingeleitet.


Verbrechen

Unbestreitbar ist Geheimhaltung ein unverzichtbarer Be-standteil jedes Verbrechens. Ob Bombenanschlag, Kindes-entführung, Menschen- oder Drogenhandel, Onlinebetrug oder Juwelenraub, die Täter bereiten sich im Verborgenen vor und verwischen nach der Tat ihre Spuren, um unentdeckt zu bleiben. Die Gegenreaktion der bedrohten Öffentlichkeit ist meist ebenfalls die Geheimhaltung. Fotos, Daten, Standorte, persönliche Netzwerkausrüstung, viele Menschen schützen sich und ihre Familien durch Geheimhaltung. Misstrauen gegen jedermann.

Natürlich gehört die effektive Verbrechensbekämpfung zu den bekanntesten und kontroversesten Argumenten für Vorratsdatenspeicherung, biometrische Gesichtserkennung und andere, massenhafte Datenerhebungen. Die zahlrei-chen Gegner werden sich durch die bislang überschaubaren Erfolge heutiger Technologien nicht von deren Vorteilen überzeugen lassen. Dennoch sind es eben in erster Linie die Unzulänglichkeiten aktueller Verfahren, die als Gegenargument dienen. Mit der Fortentwicklung der Technologie mag die Grundsatzfrage, ob durch den umfassenden Einsatz von Erkennungstechnologien Ver-brechen wirksam verhindert werden können, auch in der Öffentlichkeit neu bewertet werden.

Denkbar jedenfalls erscheint es, dass in naher Zukunft auf Videokameras zur Kontrolle öffentlicher Orte verzichtet werden kann, stattdessen aber biometrisch oder durch Funktechnologie verifizierte Standortdaten jedes einzelnen Menschen, Fahrzeugs oder gefährlichen Gegenstands er-fasst und für die Öffentlichkeit publiziert werden. Wenn stets nachvollzogen werden kann, wer sich wann auf dem Spielplatz, vor dem Juwelier oder auf dem Weihnachtsmarkt aufhält, wer welche Fahrzeuge anmietet oder Chemikalien im Gartencenter kauft, und diese Informationen durch künstliche Intelligenz ausgewertet und jedermann zur Verfügung gestellt werden, dann könnten gefährliche Entwicklungen frühzeitig erkannt werden. Vertrauen durch Wissen.


Öffentlichkeit schützt

Zugegeben: Dass Geheimnisse missbraucht werden können, ist unschön, aber allein kein überzeugendes Argument für völlige Transparenz. Immerhin schützen Geheimnisse traditionell vor Verfolgung oder Ungerechtigkeit. Doch möglicherweise gibt es ja heute und in Zukunft einen weit wirkungsvolleren Schutz: Die Öffentlichkeit.

Die Räume schwinden, in denen Menschen, Unternehmen oder Staaten unkontrolliert Macht ausüben können. Ob sexualisierte Gewalt am Filmset, unmenschliche Arbeitsbedingungen in der Lieferkette oder inhaftierte Journalist*innen – wo der Rechtsweg aus unterschiedlichen Gründen bislang versagte, kann heute öffentlicher Druck Veränderungen bewirken. Niemand handelt mehr unbeobachtet. Wer Macht missbraucht, unethisch handelt oder gegen das Gesetz verstößt, muss mehr fürchten als ein staatliches Verfahren. Karriere, Umsatz und Netzwerke stehen auf dem Spiel. Man mag das als Pranger oder Furor bezeichnen, aber es wirkt.

Wieso soll sich diese Wirkung öffentlichen Drucks nicht systematisch auf alle Bereiche des Lebens ausweiten lassen? Insbesondere auf diejenigen Bereiche, die sich bislang nur durch Geheimhaltung schützen ließen?

Für Personalauswahlverfahren gelten strenge Regeln. Es ist offensichtlich, dass hier Entscheidungen von großer Trag-weite getroffen werden. So sind Fragen nach Schwangerschaft, Familienstand, Religion oder Gewerkschaftszugehörigkeit unzulässig. Bewerber*innen dürfen diese Geheimnisse bewahren. Dennoch werden derartige Fragen gestellt und der Rechtsweg führt selten zur angestrebten Karriere. Im Ergebnis sind junge Frauen in vielen Unternehmen und Branchen noch immer unterrepräsentiert. Ihr Recht auf‘s Geheimnis nützt ihnen nicht viel. Die Öffentlichkeit hingegen könnte viel bewirken. Würden Bewerbungsgespräche stets mit einem Livestream ins Netz übertragen werden, wäre eine Öffentlichkeit hergestellt, die darüber wachen würde, ob das Gespräch fair verläuft. Des Rechtes zur Geheimhaltung bestimmter Informationen bedürfte es nicht mehr.

Klappt es mit dem Job, gerät man schnell mit dem nächsten Geheimnis in Kontakt: Dem Verdienst der Kolleg*innen. Nur selten wird in Unternehmen offen über die vereinbarten Gehälter gesprochen. Im Regelfall ist dieses Thema tabu, was allerdings selten den Arbeitnehmerinnen nützt. Sie verdienen oft signifikant weniger als ihre männlichen Kollegen – und wissen es nicht einmal.

Ganz zu schweigen von allen übrigen Einkünften. Die kennt nur das Finanzamt und erteilt Normalsterblichen keinerlei Auskunft über fremde Einkommen.

Anders in Schweden. Einkünfte sind dort maximal transparent. Jeder kann jederzeit und ohne Nachweis eines berechtigten Interesses volle Auskunft über jedermanns Einkünfte erhalten. Für die Bürger*innen keineswegs be-ängstigend, sondern wertvolles Instrument zur Aufdeckung und Bekämpfung von Ungerechtigkeiten. Auch hier ist Transparenz wirkungsvoller als Geheimhaltung.

Aber kann man Mechanismen, die im beruflichen, geschäftlichen oder finanziellen Bereich funktionieren, einfach auf das gesamte Privatleben übertragen? Nun, das Faszinierende an Wirkungszusammenhängen ist eben, dass sie grundsätzlich überall funktionieren. Auch im Privaten steuern wir unsere Mitmenschen bis hin zum engsten Familienkreis, bewusst oder unbewusst, durch das Teilen oder Vorenthalten von Informationen. Viele sind auch ohne konkreten Grund davon überzeugt, dass bestimmte Dinge niemanden etwas angehen und deshalb nicht geteilt werden müssen.

Dabei ist ein anderer Umgang mit persönlichen Daten durchaus denkbar. Dass hier kulturelle Fragen eine große Rolle spielen, erkennt man nicht zuletzt daran, wie unterschiedlich in verschiedenen Ländern die sozialen Netzwerke genutzt werden. Ob wir Fotos vom Kindergeburtstag, Namen von Freunden oder Standortangaben teilen, ist auch und insbesondere eine Frage des Umfelds und der Kultur. Das anerzogene Geheimnis.


Nutzen der Transparenz

Voraussichtlich wird die Debatte über die Zukunft des Geheimnisses aber ohnehin schon bald überholt und nur noch von theoretischem Interesse sein. Der Siegeszug der Transparenz scheint angesichts der enormen Bereitschaft zahlreicher Menschen, ihre Geheimnisse preiszugeben, gar nicht mehr aufzuhalten zu sein.

Der rasante Ausbau unserer Telefone und Wearables mit immer mehr Sensoren und die Vernetzung aller erhobenen Daten wurde nicht angeordnet, sondern ist das Ergebnis einer gigantischen Nachfrage am freien Markt. Menschen auf der ganzen Welt sind bereit, persönlichste Daten aus allen Lebensbereichen zu erfassen, weiterzugeben und verarbeiten zu lassen. Denn die auf der Grundlage dieser Daten zur Verfügung gestellten Dienste verbessern das Leben vieler Menschen ganz erheblich. Die sogenannte Schwarmintelligenz wirkt.

Wir teilen Erfahrungen mit Käufer*innen, Verkäufer*innen, Unternehmen, Arbeitgeber*innen, Lehrer*innen, Richter*in-nen, Orten, Diensten, Restaurants, Hotels und ermöglichen es anderen Menschen auf diese Weise, ihre Entscheidungen zu verbessern: Wo soll ich essen? Wie ist mein Urlaubshotel? Was sagen andere über meinen künftigen Arbeitgeber?

In Videotutorials stellen wir unser Wissen über Produkte und Tätigkeiten zur Verfügung. Wir übertragen laufend unsere Standortdaten an Verkehrsdienste und nutzen die gewonnenen Informationen, um Staus zu umfahren oder gar die Staubildung zu vermeiden.

Wir teilen Urlaubsfotos und füttern die Gesichtserkennung, um Erinnerungen auch auf Dauer zu bewahren und handhabbar zu machen. Wir entsperren unsere Telefone mit Fingerabdruck oder Gesicht, bald schon öffnen wir so unsere Wohnungstür. Schlüssel? Benötigen wir nicht mehr.

Bezahldienste auf dem Telefon ersparen heute schon das Mitführen von Karten oder gar Bargeld. Und Papier für Fahrkarten oder Flugtickets ist längst nicht mehr vonnöten. Wir könnten eine Weltreise allein mit dem Handy und dem Pass in der Tasche machen, denn selbst am Flughafen reicht die Gesichtserkennung zur automatischen Einreise. Und die Diskussion um Bodyscanner? Längst überholt.

Unsere Wearables erfassen Schlafrhythmus, Herzfrequenz, Schrittzahl und Kalorienverbrauch. Bald werden Blutzucker, Blutdruck und zahlreiche andere Gesundheitsdaten dazu-kommen. Die laufende Auswertung durch medizinische Dienstleister ist nur noch eine Frage der Zeit. Die Hoffnung, Herzinfarkte oder gar Krebserkrankungen rechtzeitig zu erkennen, lässt alle Bedenken über Bord gehen.

Wir wollen Geld sparen, gesund bleiben, Partner kennen-lernen, Zeit sparen, gute Entscheidungen treffen, die Umwelt schützen, uns ethisch verhalten. Je mehr Daten wir und alle anderen teilen, desto näher scheinen wir diesen Zielen zu kommen.

Das Geheimnis? Bald ein Relikt. Und die Menschen, die nicht mitmachen? Die am Geheimnis festhalten? Künftig belächelt, als würden sie über Elektrosmog durch Mobilfunk klagen.

Ja, der Untergang des Geheimnisses ist besiegelt. Wir sollten unseren Frieden mit dieser Entwicklung machen und uns auf das große gesellschaftliche Wagnis einlassen. Unsere Individualität wird nicht untergehen, sie wird aufblühen. Wenn jeder weiß, wer, wie und wo wir sind, werden wir freier sein. Erlöst vom Geheimnis und erleuchtet von der Erkenntnis, dass wir mit unseren Eigenheiten, unseren Sorgen, den dunklen Schatten auf unserer Seele nie allein sind. Die Welt ist voll von Verrückten wie uns. Es ist normal, unnormal zu sein.

Erst, wenn alle Menschen über alle Dinge Bescheid wissen können, werden sie gleich sein. Vielleicht waren wir einer Gesellschaft aus gleichberechtigten, aufgeklärten Menschen nie näher als heute.

Eines aber wird am Ende dann doch fehlen: Der unbestreitbare Zauber, der mit den kleinen Geheimnissen verbunden ist. Das Gefühl, eine winzige Sache ganz allein für sich zu haben. Eine Erinnerung, einen Moment, einen Traum. Und so wunderbar mir die Utopie einer geheimnislosen Gesellschaft erscheinen mag, so sehr berührt mich doch der Aufruf, mit dem Friedrich Schiller seine kleine Ode ans Geheimnis schließt, und der es wert ist, in die Zukunft getragen zu werden:

„Leis auf den Zehen kommt‘s geschlichen,

Die Stille liebt es und die Nacht;

Mit schnellen Füßen ist‘s entwichen,

Wo des Verräters Auge wacht.


O schlinge dich, du sanfte Quelle,

Ein breiter Strom um uns herum,

Und drohend mit empörter Welle

Verteidige dies Heiligtum!“

A

A


* Stefan Heinrichs, Jahrgang 1976, ist Rechtsanwalt in Berlin. Er begleitet Digitalisierungsprojekte im Finanzsektor. Er glaubt an das Internet als ultimatives Werkzeug der Menschheit zur Überwindung von Ungleichheit. Die wichtigsten Dinge hat er von seinen Kindern gelernt.

Titelbild: © Zffoto via Adobe Stock, #191831018

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