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Die Digitalisierung von Arbeitsgerichtsverfahren:

Erster Schritt Richtung Zukunft?

Dr. Sven Lohse*

Das Leitbild eines gerichtlichen Verfahrens besteht noch immer darin, dass die Parteien mit ihren örtlich ansässigen Rechtsanwälten physisch in einem Gerichtssaal zusammenkommen, zur Sache verhandelt wird, ggf. Zeugen oder Sachverständige gehört werden und am Ende durch den bzw. die Richter eine Entscheidung ergeht. Nicht erst, aber gerade durch COVID-19 gerät dieses Leitbild ins Wanken, da die physische Anwesenheit der am gerichtlichen Verfahren Beteiligten mit einem erhöhten Gesundheitsrisiko einhergeht.

Die Lösung könnte in virtuellen Gerichtsverfahren liegen, an denen die Beteiligten z.B. über ihren heimischen PC teilnehmen. Dieser auf den ersten Blick naheliegende Lösungsansatz muss jedoch mit den (bestehenden) rechtlichen Grundsätzen und Rahmenbedingungen sowie technischen Möglichkeiten in Einklang gebracht werden.

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Grundsätze des gerichtlichen Verfahrens

Ein gerichtliches Verfahren wird von Verfahrensgrundsätzen (sog. Prozessmaximen) geprägt, die ihren Niederschlag in zahlreichen gesetzlichen Regelungen finden. Im Zusammenhang mit einem virtuellen Gerichtsverfahren sind insbesondere der Mündlichkeits-, Unmittelbarkeits- sowie Öffentlichkeitsgrundsatz von Bedeutung.

Der Grundsatz der Mündlichkeit besagt, dass die Parteien mündlich vor dem erkennenden Gericht und physischer Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten verhandeln.[1] Eng verbunden mit dem Mündlichkeitsgrundsatz ist der Unmittelbarkeitsgrundsatz, der vorgibt, dass die mündliche Verhandlung und eine etwaige Beweisaufnahme vor dem erkennenden Gericht erfolgen muss, da sich das Gericht einen Eindruck von den Parteien und Zeugen verschaffen können soll.[2] Der Öffentlichkeitgrundsatz bedeutet, dass auch an dem gerichtlichen Verfahren nicht beteiligte Personen der mündlichen Verhandlung beiwohnen können und zwar unabhängig davon, ob sie von dem Verfahren in irgendeiner Weise betroffen sind.[3] Diese Grundsätze lassen jedoch mehr oder weniger großzügige Ausnahmen zu,[4] sodass sie nicht per se gegen ein virtuelles Gerichtsverfahren sprechen.


Rechtslage seit dem 01.01.2002

Bereits zum 01.01.2002 hat der Gesetzgeber § 128a ZPO in die Zivilprozessordnung aufgenommen. Dieser sah vor, dass das Gericht den Parteien und ihren rechtlichen Beiständen sowie Zeugen und Sachverständigen auf Antrag gestatten konnte, sich während der Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten, sofern die Parteien damit einverstanden waren und eine zeitgleiche Übertragung in Bild und Ton – gemeint ist die Videokonferenz – in das Sitzungszimmer (technisch) möglich war. Seit dem 01.11.2013 kann das Gericht auf Antrag oder von Amts wegen auch ohne Einverständnis der anderen Partei die Verhandlung im Wege einer Videokonferenz anordnen.[5]

Die gesetzliche Abweichung vom Mündlichkeitsgrundsatz begründete der Gesetzgeber mit prozessökonomischen Erwägungen.[6] Durch die Möglichkeit der Videokonferenz sollte die Terminfindung erleichtert und die Reisetätigkeit der Parteien verringert werden, mit dem Ziel einer Verfahrensbeschleunigung.[7]


Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit als Motor der Digitalisierung?

Durch COVID-19 und den damit verbundenen, flächendeckenden Ausfall von mündlichen Verhandlungen hat die Diskussion um Verhandlungen ohne physische Anwesenheit der am Verfahren Beteiligten an Dynamik gewonnen. Vorläufiges Ergebnis dieser Diskussion ist eine Ergänzung des Arbeitsgerichts- sowie des Sozialgerichtsgesetzes. Für den Fall einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite im Sinne des § 5 des Infektionsschutzgesetzes, wie sie der Bundestag am 25.03.2020 festgestellt hatte, gilt für das arbeitsgerichtliche Verfahren nunmehr § 114 ArbGG (zunächst befristet bis zum 31.12.2020):

(1) Das Gericht kann abweichend von § 128a der Zivilprozessordnung einem ehrenamtlichen Richter bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Absatz 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes von Amts wegen gestatten, an einer mündlichen Verhandlung von einem anderen Ort aus beizuwohnen, wenn es für ihn aufgrund der epidemischen Lage unzumutbar ist, persönlich an der Gerichtsstelle zu erscheinen. Die Verhandlung wird zeitgleich in Bild und Ton an den anderen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen. Die Übertragung wird nicht aufgezeichnet.

(2) Absatz 1 gilt entsprechend für die Beratung, Abstimmung und Verkündung der Entscheidung. Satz 1 gilt auch, wenn die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erfolgt. Die an der Beratung und Abstimmung Teilnehmenden haben durch geeignete Maßnahmen die Wahrung des Beratungsgeheimnisses sicherzustellen; die getroffenen Maßnahmen sind zu protokollieren.

(3) Das Gericht soll den Parteien, ihren Bevollmächtigten und Beiständen bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Absatz 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes im Falle des § 128a der Zivilprozessordnung von Amts wegen gestatten, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort im Wege der zeitgleichen Bild- und Tonübertragung Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Satz 1 gilt entsprechend für die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen.[8]

Die Neuregelung ermöglicht es zunächst, dass ehrenamtliche Richter nicht mehr im Gerichtsaal anwesend sein müssen, sondern per Videokonferenz zugeschaltet werden können. Dies bedeutet im Umkehrschluss aber auch, dass der Vorsitzende Richter weiterhin im Gerichtsaal anwesend sein muss. Darüber hinaus soll das Gericht den Parteien, deren Bevollmächtigten sowie Zeugen und Sachverständigen von Amts wegen gestatten, sich während der mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und per Videokonferenz zugeschaltet zu werden.

Die Neuerungen wirken auf den ersten Blick marginal zu der bereits seit 2002 geltenden Regelung in § 128a ZPO. Jedoch steckt in einem einzigen Wort die entscheidende Änderung: Nach § 114 Abs. 3 ArbGG soll das Gericht den Parteien etc. von Amts wegen gestatten, sich an einem anderem Ort als dem Gerichtsaal aufzuhalten, während § 128a Abs. 1, Abs. 2 ZPO vorsieht, dass das Gericht dies gestatten kann. Eine weitere Neuerung ist die Möglichkeit des Gerichts, Zeugen und Sachverständigen von Amts wegen zu gestatten, sich an einem anderen Ort aufzuhalten, während dies nach § 128a Abs. 1 ZPO nur auf Antrag erfolgen kann. Kurzum: § 114 ArbGG ermöglicht es, eine mündliche Verhandlung zu führen, bei der nur der (Vorsitzende) Richter im Gerichtssaal anwesend ist. Daher lässt sich in § 114 ArbGG der gesetzgeberische Wille erkennen, dass das Gericht aktiv darauf hinwirken soll, dass die am Verfahren Beteiligten nicht mehr physisch anwesend sind.


Ursprünglicher Vorschlag des Bundesarbeitsministeriums für Arbeit und Soziales

Der zunächst vorgelegte Referentenentwurf des Bundesarbeitsministeriums für Arbeit und Soziales vom 09.04.2020 (COVID-19 ArbGG/SGG-AnpassungsG) ging deutlich über die jetzige Regelung hinaus. So war vorgesehen, dass das Gericht auch gegen den Willen der Parteien anordnen konnte, dass sich die Parteien etc. an einem anderen Ort als dem Gerichtssaal aufzuhalten haben. Zudem konnte das Gericht die Öffentlichkeit ausschließen, wenn der Gesundheitsschutz im Gerichtssaal nicht gewährleistet werden kann. Dieser Referentenentwurf hat teilweise deutliche, an die Grenze der Sachlichkeit gehende, Kritik erfahren,[9] was der Grund für den nun abgeschwächten § 114 ArbGG sein dürfte.


Technische Umsetzbarkeit als unüberwindbare Hürde?

Fehlt es verbreitet an den technischen Voraussetzungen, läuft die gesetzliche Neuerung allerdings in der Praxis ins Leere. Denn Voraussetzung ist, dass alle Beteiligten über einen leistungsfähigen Internetanschluss und einen Computer, ausgestattet mit Webcam, Mikrofon und Lautsprechen verfügen, um – sichere – Software zur Videotelefonie sinnvoll bzw. überhaupt nutzen zu können. Die Neuregelung setzt stillschweigend voraus, dass sowohl die Parteien, deren Bevollmächtigten, die Zeugen und Sachverständigen, die ehrenamtlichen Richter sowie die Gerichte selbst über die notwendige technische Ausstattung verfügen und die Fähigkeit besitzen, diese auch zu nutzen. Dies dürfte bei Rechtsanwälten eher der Fall sein, als bei Privatpersonen.

Ein Hemmschuh ist je nach Region insbesondere das Fehlen eines leistungsfähigen Internetanschlusses. Das kommt in deutschen Haushalten durchaus noch vor – und zwar gerade in Zeiten, in denen die häuslichen Leitungen wie nie zuvor durch zahlreiche zuhause lebende und arbeitende Familien ausgelastet.

Dass jedes Gericht in jedem Sitzungssaal über die technischen Möglichkeiten verfügt, die Verhandlung im Rahmen einer Videokonferenz abzuhalten und dass dies auch dann gilt, wenn alle Kammern und Senate gleichzeitig verhandeln, ist ebenfalls keineswegs ausgemacht. Offen ist auch, wie die Öffentlichkeit entsprechende Verhandlungen verfolgen können soll. Nicht alle Gerichtssäle sind mit Leinwänden, Projektoren usw. ausgestattet.


Fazit

Aus der arbeitsgerichtlichen Praxis lässt sich die Beobachtung mitnehmen, dass von den Möglichkeiten des § 114 ArbGG bislang zurückhaltend Gebrauch gemacht wurde. Dies mag auch darauf zurückzuführen sein, dass sich die epidemische Lage seit April 2020 etwas entspannt hat. Dennoch: Die gesetzlichen Neuerungen sind ein richtiger Schritt in Richtung einer (weiteren) Digitalisierung von Gerichtsverfahren.


Praxistipp:

Aktives Hinwirken auf eine digitale Verhandlung

Obgleich kein prozessualer Anspruch auf die Durchführung der Verhandlung per Videokonferenz besteht, empfiehlt es sich, aktiv auf eine solche hinzuwirken, wenn dies – aus eigener anwaltlicher Sicht – für das Verfahren förderlich wäre, z.B. um Verfahrensverzögerungen aufgrund pandemiebedingter Terminverschiebungen zu vermeiden. Hierzu bietet sich eine Abstimmung mit dem Prozessbevollmächtigten der Gegenseite an. Hiernach könnte folgende schriftsätzliche Anregung an das Gericht gerichtet werden:

V

„In dem Rechtsstreit,

 

regen wir an,

dass das Gericht den Parteien und ihren Prozessbevollmächtigten gemäß § 114 Abs. 3 S. 1 ArbGG gestattet, sich während der mündlichen Verhandlung am [Datum] an einem anderen Ort aufzuhalten und dort im Wege der zeitgleichen Bild- und Tonübertragung Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Die Parteien und ihre Prozessbevollmächtigten verfügen über die erforderliche technische Ausstattung und es besteht zwischen den Parteien einvernehmen, die mündliche Verhandlung auf diesem Weg durchzuführen.“

V

V


* Dr. Sven Lohse ist Rechtsanwalt bei der Kanzlei Noerr LLP in Düsseldorf im Fachbereich Employment & Pensions.

[1]  Möller, JA 2010, 48, 50.

[2] Möller, JA 2010, 48, 51.

[3]  Prütting, in: MüKo-ZPO, 6. Aufl. 2020, § 295 Rn. 16.

[4] Prütting, in: MüKo-ZPO, (Fn. 3) § 295 Rn. 13 ff.

[5] Fritsche, in: MüKo-ZPO, 6. Aufl. 2020, § 128a Rn. 2.

[6]  BT-Drs. 14/6036 S. 119.

[7]  BT-Drs. 17/1224, S. 1.

[8]  Eine vergleichbare Regelung findet sich in § 211 SGG.

[9]  Vgl. hierzu insbesondere die Stellungnahme des VDJ vom 16.04.2020.

Titelbild: © Claudia Otto

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