Ri 01/2020: System(ir)relevant?

Ri 01/2020: Navigation

Ri 01/2020: Beitrag

Angst vor der eigenen Systemirrelevanz

Sebastian Louven

Was ist Systemrelevanz? Diese Frage stellten sich Fachpraktiker, Rechtswissenschaftler, aber auch Eltern in den letzten Wochen. Denn an diesem Begriff entzündeten sich die Debatten darüber, welchen Status die Anwaltschaft in der Krise habe und wie dieser auch noch in der Krise standesgerecht dargestellt werden soll. Schnell kam die Forderung nach einem breiten politischen Bekenntnis zur systemrelevanten Stellung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte auf, die Bundesrechtsanwaltskammer und der Deutsche Anwaltverein unterstützten dies. Die Argumente sind weniger rechtlich, sondern hängen mit politischen oder psychologischen Wirkungen im Justizgefüge zusammen. Hilft die Systemrelevanz aber überhaupt weiter, handelt es sich um einen rechtlich vertretbaren und anwendbaren Begriff und wie stehen die genannten Forderungen im Verhältnis mit dem Selbstverständnis der Anwaltschaft 

Gleich zum ersten: aktuell aufgekommen ist der Begriff im Zusammenhang mit der Schließung von Schulen und Kinderbetreuungen. Nur wer Angehöriger einer sogenannten systemrelevanten Berufsgruppe sei, könne ausnahmsweise noch eine Notbetreuung für seine Kinder in Anspruch nehmen. Aus diesem Zusammenhang wurde dabei bereits deutlich, wer zu diesen Berufsgruppen zählt: vor allem ärztliches und pflegerisches Personal, die das Gesundheitssystem aufrechterhalten. Und genau hierum geht es bei den breit angelegten Sonderregelungen, die deutschlandweit in den letzten Wochen erlassen wurden. Die Ansteckung mit dem Corona-Virus soll in der Masse solange verzögert werden, dass zwischenzeitlich ausreichende medizinische Kapazitäten für die schwer Erkrankten aufgebaut werden können.

Gehören Vertreter aus der Anwaltschaft dazu oder spielen sie zu diesem Zweck eine Rolle? Klar wird dies, wenn man auf die rechtliche Anbindung dieses Begriffs schaut. Denn er dient offensichtlich als Abwägungsmerkmal für eine Entscheidung darüber, welche Personen weiterhin regulär ihrem Beruf nachkommen können sollen und welche dagegen mit den Einschränkungen ihres Alltags zunächst leben müssen. Noch deutlicher gesagt: bezogen auf den unbedingten Anspruch eines Kindes auf Betreuung in einer Kindertagesstätte kommt der Staat weitreichend seinen Verpflichtungen nicht nach, sofern nicht die Eltern einen systemrelevanten Beruf ausüben. Und natürlich ist dies eine große Herausforderung für diejenigen Eltern, die plötzlich Kinderbetreuung und berufliche Tätigkeit miteinander vereinbaren müssen. Dies ist auch eine Frage des Rechts, die geklärt werden muss.

Ist diese Vereinbarkeit also für Mitglieder der Berufsgruppe Anwaltschaft unmöglich oder unzumutbar? Deplatziert erscheint die reflexhafte Forderung aus der Anwaltschaft, nunmehr ebenso als systemrelevant eingeordnet zu werden. Teilweise mit der polemischen Formel „keine Rechtsanwälte = kein Rechtsstaat“, von manchen schambefreiten Kollegen sogar in den Briefkopf aufgenommen, wird Gleichbehandlung gefordert. Sicher müssen Menschen auch in der Krise ihren Zugang zum Recht sichergestellt wissen. Sicher müssen sie sich etwa bei einem Gang im Freien nicht der Aufforderung ausgesetzt sehen dürfen, das Ziel ihres Weges anzugeben oder zu begründen. Sicher müssen Anwälte in ihrer Tätigkeit für ihre Mandantschaft weiter uneingeschränkt bleiben können. Doch dies wird nicht durch “Systemrelevanz“ erst (wieder) sichergestellt, sondern überhaupt bereits durch die Grundrechte gewährleistet. Der Zugang zum Recht wird nicht dadurch eingeschränkt, dass Anwälte offiziell als nicht systemrelevant bezeichnet werden. Anwälte sind an sich bereits wichtig, ohne dass es etwa weiterer deklaratorischer Akte bedarf. Es scheint sich neben der politischen Forderung vielmehr um überkommene Behäbigkeiten einer privilegierten Branche zu handeln: man ist die Unterstützung bei der Kinderbetreuung gewohnt, ebenso wie die physische Anwesenheit am Arbeitsplatz – unabhängig davon, ob dort dieser Tage viel persönliches Mandantschaftsaufkommen ist. Da kommt der durch die aktuelle Situation angestoßene Anlass zur breiten Digitalisierung dieser Branche eher ungelegen, wie jede Veränderung.

Systemrelevanz ist also ein Begriff des Ausnahmezustands. So wie bereits während der Bankenkrise einige Finanzhäuser so eingeordnet wurden, deren vollständiger Ausfall zu einem Umkippen weiterer Einrichtungen geführt hätte, geht es nunmehr darum, dass diejenigen Personen ungestört ihrer Tätigkeit nachgehen können, ohne die das Gesundheitssystem nicht weiter arbeiten könnte. Das – jeweils – relevante System ist also relativ nach seinem Zweck. Anwälte gehören nicht dazu. Es sagt viel über eine Anwaltschaft aus, wenn sie dies vergisst und stattdessen auf Privilegien beharrt.

Titelbild: © Varunyu via Adobe Stock, #312774452

You cannot copy content of this page