Otto: Blaue Biotechnologie als Chance für Deutschland, Europa und die Welt

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Blaue Biotechnologie als Chance für Deutschland, Europa und die Welt

I. Einleitung

Der Krieg in der und um die Ukraine hat uns gezeigt, wie wenig diversifiziert die Ernährung auf der Welt ist. Mit der Zerstörung der „Kornkammer der Welt“ durch das russische Militär droht eine breite Hungersnot. Hinzu kommt die Rohstoffabhängigkeit nicht nur bei (fossilen) Energieträgern, sondern auch bei Rohstoffen z.B. für die Herstellung von Medikamenten, welche unter anderem aus China importiert werden müssen. Lockdowns in Shenzen und Shanghai lassen bereits die Fragilität der Lieferketten deutlich spüren. Die derzeit angespannte Lage, auch befeuert durch die neueren Drohungen Russlands gegenüber die Ukraine unterstützenden Staaten, lässt erahnen, dass die Grundversorgung der Menschen unsicher ist. Schnellstmöglich müssen Wege gefunden werden, diese langfristig zu sichern. Die Blaue Biotechnologie wird hier als ein wichtiger Baustein der zukünftigen Versorgung der Bevölkerung angesehen. Bislang wurde sie eher stiefmütterlich behandelt. Das muss sich schnellstmöglich ändern.

 

II. Was ist die Blaue Biotechnologie?

Im Jahr 2019 antwortete die Bundesregierung (Drucksache 19/8901) auf eine Kleine Anfrage (Drucksache 19/8394):[1]

„Der Terminus ‚Blaue Biotechnologie‘ umfasst alle biotechnologischen Anwendungen, die sich aquatische Organismen (marine und limnische) zunutze machen oder auf diese abzielen. Führende Wissenschaftler sehen die blaue Biotechnologie als richtungsweisende Technologie an, um weltweiten sozioökologischen und -ökonomischen Herausforderungen wie der Bereitstellung von nachhaltigen Nahrungsmitteln und Energieressourcen gerecht zu werden“.

Nach der OECD umfasst Biotechnologie die Anwendung von Wissenschaft und Technologie auf lebende Organismen sowie auf deren Bestandteile, Produkte und Modelle, um lebende oder nicht lebende Materialien zu verändern mit dem Ziel der Produktion von Wissen, Gütern und Dienstleistungen.[2] In demselben Dokument hebt die OECD Working Party on Biotechnology die Bedeutung der „marine biotechnology“[3] hervor:

„Marine biotechnology is key to realising the potential of marine bio-resources – a potential that until now remains largely untapped. These resources could produce new products and processes, and help address the global challenges of food, energy, health and sustainability.” [4]

Die Blaue Biotechnologie bestimmt sich – im Gegensatz zu anderen Bereichen der Biotechnologie – nicht (nur) nach Verfahren oder Zielmarkt,[5] sondern vor allem anhand der Quelle des für biotechnologische Anwendungen genutzten Biomaterials.[6] Das bedeutet auch, dass die Blaue Biotechnologie die Grundlage vieler anderer Biotechnologiebereiche sein kann, etwa wenn aus aquatischen Organismen gewonnene Wirkstoffe für die Herstellung von Humanarzneimitteln (sog. Rote Biotechnologie) verwendet werden können. Ihre Bedeutung als sog. Querschnitts- und Zukunftstechnologie wird hier besonders deutlich. Auch ihre noch viel zu gering ausgeprägte Erforschung und Anwendungsvielfalt.

 

III. Potentiale der Blauen Biotechnologie am Beispiel von Algen

Obwohl die Bundesregierung das außerordentliche Potential der Blauen Biotechnologie im Jahr 2019 erkannte, ist deren praktische Bedeutung ausweislich der Antwort viel zu gering – auch heute noch.[7] Der enthaltene Verweis auf die europäische Ebene lässt ebenso ernüchtert zurück: Selbst hier scheint nicht viel passiert zu sein; das europäische Interesse an Blauer Biotechnologie erscheint als seit der Veröffentlichung der „Roadmap for the blue bioeconomy“[8] im Jahr 2020 vielmehr abgeflacht.[9] Obwohl die der Blauen Biotechnologie innewohnende „Lösung drängender gesellschaftlicher Probleme in den Themenfeldern Umweltschutz, menschliche Gesundheit, nachhaltige Versorgung mit Lebensmitteln, Energie und anderen Gütern“[10] gesehen wird, wird sie nicht in dem Maß angegangen, wie es angebracht wäre. Doch das kann und sollte sich nun aufgrund der aktuellen geopolitischen Entwicklungen und ihren Folgen für die Versorgung der (Welt-)Bevölkerung ändern.

Das Potential der Blauen Biotechnologie lässt sich am Beispiel von Algen gut verdeutlichen. Algen kennen wir in Deutschland vielleicht vom gelegentlichen Sushi-Genuss. Doch darüber hinaus können Algen noch sehr viel mehr bieten:

  • Algen können als Weizenersatz dienen, da sie Kohlenhydratlieferant sind. Gleichermaßen können diese Kohlenhydrate für Biokunststoffe verwendet werden, z.B. Verpackungen.[11]
  • Algen können Nährstoffe wie z.B. Omega-3-Fettsäuren produzieren und bereitstellen, ohne dass der Fischbestand (weiter) gefährdet würde.[12]
  • Algen können als Energiequelle dienen, z.B. Wasserstoff[13] und Biodiesel produzieren, wobei sie gleichzeitig als „Klimaschützer“ wirken: Sie verstoffwechseln CO2, bauen es also ab.[14]
  • Algen tragen zur Erhaltung der Lebensgrundlage Wasser bei, indem sie z.B. Mikroplastik abbauen.[15]
  • Algen können wichtige Wirkstoffe für Medikamente bereitstellen, z.B. gegen bestimmte Krebsformen.[16]

 

IV. Was ist zu tun?

1. Mehr Aufmerksamkeit schaffen und mehr Förderung bieten

Um die vielfältigen Chancen der Blauen Biotechnologie nutzbar zu machen, bedarf es zunächst einmal mehr Aufmerksamkeit für aquatische Organismen und ihre Potentiale, wie die Europäische Kommission im Jahr 2020 feststellte:

„The emerging blue bioeconomy and biotechnology sectors look at groups of marine organisms that until now often have been ignored for commercial exploitation.“[17]

Die Untersuchung und Nutzung der großen Vielfalt der noch weitgehend unerforschten aquatischen Ressourcen ist jedoch mit hohen Kosten, z.B. für die Probenahme, verbunden.[18] Dabei ist der Erforschungs- und Produktionserfolg stets risikobehaftet, sodass private Investoren häufig zurückschrecken.[19] Die wesentliche Finanzierungsquelle stellen daher öffentliche Mittel dar, wobei diese noch eher spärlich auszufallen scheinen.[20]

Mithin muss die Förderung der Blauen Biotechnologie in der EU intensiviert und der Zugang zu Fördermitteln erleichtert werden. Wie das Algenbeispiel zeigt, kann die Blaue Biotechnologie als von gemeinsamem europäischem Interesse im Sinne des IPCEI – Important Project of Common European Interest – angesehen werden. Hierunter fallen nach 3.2.1 (14) und (15) der Mitteilung der Kommission zu Kriterien für die Würdigung der Vereinbarkeit von staatlichen Beihilfen zur Förderung wichtiger Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse mit dem Binnenmarkt (2021/C 528/02) vom 30. Dezember 2021[21] Vorhaben, die

„einen konkreten, klaren und erkennbaren wichtigen Beitrag zu den Zielen oder Strategien der Union leisten, beispielsweise zum europäischen Grünen Deal, zur Digitalstrategie, zur digitalen Dekade oder zur europäischen Datenstrategie, zur neuen Industriestrategie für Europa und deren Aktualisierung, zu ‚Next Generation EU‘, zur europäischen Gesundheitsunion, zum neuen Europäischen Forschungsraum für Forschung und Innovation, zum neuen Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft oder zum Ziel der Union, bis 2050 klimaneutral zu werden. Außerdem muss das Vorhaben erhebliche Auswirkungen auf ein nachhaltiges Wachstum haben.“

und ausgerichtet sind

„nachweislich auf die Behebung eines schwerwiegenden Markt- oder Systemversagens, das verhindert, dass das Vorhaben ohne die Beihilfe in gleichem Umfang oder in gleicher Weise durchgeführt wird, oder auf gesellschaftliche Herausforderungen, die andernfalls nicht adäquat angegangen oder bewältigt würden“.

Geprüft werden sollte daneben, wie die Blaue Biotechnologie mit auf diesem Gebiet erfahreneren befreundeten Nicht-EU-Staaten, z.B. Norwegen, schnell und wirksam gemeinsam gefördert werden kann.

 

2. Abmildern bzw. Beseitigen grundsätzlicher Rechtsprobleme

Ein nicht zu unterschätzendes Problem ist dabei die noch unausgereifte Rechtslage: Sie ist häufig unklar – insbesondere das UN-Seerechtsübereinkommen (UNCLOS[22]), die Convention on Biological Diversity (CBD)[23] und das Nagoya-Protokoll[24] lassen viele Fragen offen.[25]

Hinderliche Rechtsunsicherheiten können – jedenfalls angesichts des Eilbedarfs – nur durch staatliche Zusammenarbeit beseitigt werden. Der derzeit sichtbare Zusammenhalt in der (nicht nur westlichen) Welt lässt hier optimistisch auf die Zukunft blicken. Die gute Zusammenarbeit muss daher nur thematisch ausgeweitet werden.

 

3. Akzeptanz in der Bevölkerung schaffen

Nicht zuletzt muss in der (Welt-)Bevölkerung Akzeptanz gegenüber neuen Grundstoffen und Versorgungsgrundlagen geschaffen werden. Hierfür bedarf es breiter Aufklärung über die Möglichkeiten der Biotechnologie einschließlich der Blauen Biotechnologie. Nicht selten bestehen Vorbehalte gegenüber Gentechnik[26], die abgebaut werden müssen. Auch die Umstellung z.B. der Ernährung von Weizen- auf Algenprodukte dürfte sich für den Einzelnen als schwierig und mehrschrittig erweisen. Fakt ist jedoch, dass eine Umstellung der Arbeits- und Lebensweise langfristig in irgendeiner Weise erfolgen muss, um die bestehenden und noch entstehenden (Rohstoff-)Krisen zu meistern.

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[1] https://www.bundestag.de/webarchiv/presse/hib/2019_04/636000-636000, S. 1 (zuletzt abgerufen am 28. April 2022).

[2] OECD, Marine Biotechnology: Definitions, infrastructures and directions for innovation, 28. Oktober 2016, S. 8, https://one.oecd.org/document/DSTI/STP/BNCT(2016)10/en/pdf (zuletzt abgerufen am 28. April 2022); Collins/Broggiato, Blue Biotechnology, 2018, S. 41, 43, https://www.researchgate.net/publication/323734637 (zuletzt abgerufen am 28. April 2022).

[3] Blaue und Marine Biotechnologie werden regelmäßig synonym verwendet, letztere umfasst jedoch keine Binnengewässer, sodass der Begriff der Blauen Biotechnologie weiter ist als der der Marine Biotechnologie.

[4] OECD, Marine Biotechnology: Definitions, infrastructures and directions for innovation, 28. Oktober 2016, S. 2, https://one.oecd.org/document/DSTI/STP/BNCT(2016)10/en/pdf (zuletzt abgerufen am 28. April 2022).

[5] So bezieht sich die Rote Biotechnologie z.B. auf humanmedizinische Anwendungen und Produkte, die Weiße Biotechnologie auf die (chemische) Industrie, vgl. Collins/Broggiato, Blue Biotechnology, 2018, S. 43, https://www.researchgate.net/publication/323734637 (zuletzt abgerufen am 28. April 2022).

[6] Collins/Broggiato, Blue Biotechnology, 2018, S. 41, 43, https://www.researchgate.net/publication/323734637 (zuletzt abgerufen am 28. April 2022); vgl. dazu OECD, Marine Biotechnology: Definitions, infrastructures and directions for innovation, 28. Oktober 2016, S. 8, https://one.oecd.org/document/DSTI/STP/BNCT(2016)10/en/pdf (zuletzt abgerufen am 28. April 2022).

[7] Dasselbe stellte die OECD 2016 fest: OECD, Marine Biotechnology: Definitions, infrastructures and directions for innovation, 28. Oktober 2016, S. 2, https://one.oecd.org/document/DSTI/STP/BNCT(2016)10/en/pdf (zuletzt abgerufen am 28. April 2022).

[8] https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/7e963ebb-46fc-11ea-b81b-01aa75ed71a1/language-en/format-PDF/source-115609569 (zuletzt abgerufen am 28. April 2022). Auf europäischer Ebene wird meist auch von „blue bioeconomy“ gesprochen.

[9] https://ec.europa.eu/oceans-and-fisheries/ocean/blue-economy/blue-bioeconomy-and-blue-biotechnology_en (zuletzt abgerufen am 28. April 2022).

[10] https://dserver.bundestag.de/btd/19/089/1908901.pdf, S. 1 (zuletzt abgerufen am 28. April 2022).

[11] Universität Hohenheim, Biocarb-4-Food, https://rc-bioeconomy.uni-hohenheim.de/biocarb-4-food (zuletzt abgerufen am 28. April 2022).

[12] Antientzündliche Omega-3-Quellen: Worauf achten? NDR, 12. Februar 2022, https://www.ndr.de/ratgeber/gesundheit/Omega-3-Fettsaeuren-Warum-sie-gesund-sind,fettsaeuren100.html (zuletzt abgerufen am 28. April 2022).

[13] Futurium, Wasserstoff aus der Algenfabrik, 23. März 2020, https://futurium.de/de/blog/wasserstoff-aus-der-algenfabrik (zuletzt abgerufen am 28. April 2022).

[14] Friedl, Max-Planck-Institut, https://www.ds.mpg.de/116147/20 (zuletzt abgerufen am 28. April 2022).

[15] Biooekonomie.de, 30. Oktober 2019, https://biooekonomie.de/nachrichten/neues-aus-der-biooekonomie/meeresalgen-gegen-plastikmuell (zuletzt abgerufen am 28. April 2022).

[16] Schmidt, Wie viel Potential steckt in Algen als Medizin?, 20. September 2020, https://www.mdr.de/wissen/algen-medizin-krebs-102.html (zuletzt abgerufen am 28. April 2022).

[17] https://ec.europa.eu/oceans-and-fisheries/ocean/blue-economy/blue-bioeconomy-and-blue-biotechnology_de (zuletzt abgerufen am 28. April 2022).

[18] Collins/Broggiato, Blue Biotechnology, 2018, S. 67, https://www.researchgate.net/publication/323734637 (zuletzt abgerufen am 28. April 2022).

[19] Collins/Broggiato, Blue Biotechnology, 2018, S. 67, https://www.researchgate.net/publication/323734637 (zuletzt abgerufen am 28. April 2022).

[20] Collins/Broggiato, Blue Biotechnology, 2018, S. 67, https://www.researchgate.net/publication/323734637 (zuletzt abgerufen am 28. April 2022); vgl. https://ec.europa.eu/info/research-and-innovation/research-area/environment/bioeconomy/blue-bioeconomy_en (zuletzt abgerufen am 28. April 2022).

[21] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=uriserv%3AOJ.C_.2021.528.01.0010.01.DEU&toc=OJ%3AC%3A2021%3A528%3AFULL (zuletzt abgerufen am 28. April 2022).

[22] https://www.un.org/depts/los/convention_agreements/texts/unclos/unclos_e.pdf (zuletzt abgerufen am 28. April 2022).

[23] https://www.cbd.int/convention/ (zuletzt abgerufen am 28. April 2022).

[24] https://www.bfn.de/nagoya-protokoll (zuletzt abgerufen am 28. April 2022).

[25] Collins/Broggiato, Blue Biotechnology, 2018, S. 60 ff., 67, https://www.researchgate.net/publication/323734637 (zuletzt abgerufen am 28. April 2022).

[26] Vgl. z.B. Leopoldina, Fakt oder Vorurteil? Häufige Aussagen über Grüne Gentechnik auf dem Prüfstand, https://www.leopoldina.org/wissenschaft/gruene-gentechnik/gruene-gentechnik-vorurteile/ (zuletzt abgerufen am 28. April 2022).

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